Es war 18.51 Uhr Ortszeit in London, als die 15-Jahres-Ära von Joachim Löw als Bundestrainer abrupt endete. 0:2 gegen England – drei Jahre nach dem WM-Desaster in Russland geht der 61-Jährige ungekrönt in die DFB-Rente. Hansi Flick ist jetzt am Zug.
Wembley, Turnier, Alles-oder-nichts-Spiele: Am Vorabend des bitteren EM-Achtelfinales gegen die Three Lions saß Löw im Londoner Teamhotel und redete da noch voller Vorfreude und voller Hoffnung über den Fußball-Klassiker. Wer schon immer verstehen wollte, warum der Bundestrainer-Posten für Löw der Job seines Lebens war, der musste nur gut zuhören. Alles kulminierte in einem Satz mit sechs Wörtern, den Löw irgendwann aussprach: «Für solche Spiele ist man Trainer!»
15 Jahre Bundestrainer – eine Ewigkeit
Aber in solchen Spielen hatte er in der Spätphase seines Schaffens den Zauberstab irgendwie verloren. Auch am Dienstagabend fehlte ihm am Spielfeldrand die spontane Eingabe, die große Idee, die Reaktion. «Er hat eine Wahnsinns-Ära mit angeführt, das ist einfach traurig, dass es jetzt vorbei ist», sagte Löws einstiger Kapitän Bastian Schweinsteiger nach der Niederlage gegen England als ARD-Experte.
15 Jahre Bundestrainer. Das ist im hektischen, aufgeregten Fußball-Business selbst auf Verbandsebene mehr als eine Ewigkeit. Das kann nur funktionieren, wenn die Erfolgsquote über viele Jahre stimmt – und wenn der Trainer in der Aufgabe seine Erfüllung findet. Und einen Arbeitgeber dahin trimmt, ihn einfach nur machen zu lassen. Der DFB ließ ihn vielleicht einen Ticken zu lange nach dem WM-Aus 2018.
Es gibt Vereinstrainer. Und es gibt Nationaltrainer. Nur auf den ersten Blick ist es derselbe Job. Der von Perfektion besessene Pep Guardiola oder der von den Fans geliebte Emotionsbolzen Jürgen Klopp leben sich übers Jahr im stressigen Drei-Tage-Spielrhythmus aus. Bei Löw oder dessen französischem Weltmeister-Nachfolger Didier Deschamps sind es die Turniere, die sie in der Regel alle zwei Jahre an ihre Belastungs- und Leistungsgrenze treiben, ihnen den «Kick geben». So hat es Löw mal gesagt, er nennt sich gern selbst Turniertrainer.
«Beim Turnier in meiner eigenen Welt»
Die drei WM-Endrunden (2010, 2014, 2018) und vier EM-Events (2008, 2012, 2016, 2021) waren darum «die Highlights» seiner Karriere. Wer am Montagabend miterlebte, wie die kleine Schweiz den Topfavoriten Frankreich in einem Fußball-Krimi besiegte, der versteht, warum Turniere das größte Spektakel sind. Und ein Turnier-K.o. so bitter.
«Bei einem Turnier bin ich in meiner eigenen Welt, in meinem Tunnel», sagte Löw einmal. Es begann für ihn nie mit dem ersten Spiel, auch nicht mit dem Trainingslager. «Vor einem Turnier bin ich praktisch schon ein halbes Jahr davor nirgendwo anders mit den Gedanken als beim Fußball», sagte er vor dieser EM, seinem letzten großen Turnier als Chef der Nationalelf. Länderspiel Nummer 198 war sein letztes.
Flick übernimmt nun im September, Löws ehemaliger Assistent. Auch der 56-Jährige ist ein Turnierliebhaber. Er führte den FC Bayern 2020 bei der Finalrunde in Lissabon zum Champions-League-Triumph. Er verließ die Bayern vorzeitig, Löws Job soll auch der seines Lebens werden.
Löw liebte den Nervenkitzel der K.o.-Spiele, auch wenn er unten am Spielfeldrand beim Coaching unter Druck – wie bei seinem persönlichen Finale gegen England – bisweilen einen hilflosen Eindruck vermittelte. Löw war immer mehr ein Entwickler, ein Trainer, der einen Masterplan entwirft. Der Weg war oft das Ziel, er erreichte es beim WM-Triumph 2014 in Brasilien nach einem mehrjährigen Vorlauf.
Danach wurde es holprig, Löws Turnierkurve entwickelte sich abwärts. Trotzdem spricht sein ewiger Wegbegleiter und DFB-Direktor Oliver Bierhoff «von einer Erfolgsgeschichte dieses Trainers» – nicht zu Unrecht übrigens. Sepp Herberger, Helmut Schön, Franz Beckenbauer, Löw – in dieser Weltmeister-Riege steht der Mann aus Südbaden.
Als Bundestrainer konnte Löw sich ausleben
Löw war in Deutschland, der Türkei und Österreich Vereinstrainer. Aber im Bundestrainer-Amt konnte er sich ausleben. In den zeitlichen Freiräumen zwischen den Länderspielen tauchte er regelmäßig ab. Am liebsten saß er bei Bundesligaspielen im heimischen und vor allem beschaulichen Freiburg im Stadion. Rote Teppiche mied Löw, Talkshows ebenso, nur für die «Bambi»-Verleihung machte er Ausnahmen. Der ewige «Bundes-Jogi» ist den Menschen im Lande irgendwie fremd geblieben.
Dabei ist der Mensch Löw ein Grund, warum es so lange so gut mit ihm, seinem Stab und dem Team passte. Bei den Spielern hört man zum Ende der Ära oft eine Verbundenheit heraus. So sagte der Dortmunder Emre Can, als er über den Trainer Löw sprechen sollte: «Was für mich noch wichtiger ist, ist, wie er als Mensch ist. Er ist ein wundervoller Mensch, respektvoll gegenüber jedem. Ich bin ihm dankbar.»
Solche Aussagen sind selten im Profi-Fußball. Als Trainer wirkte Löw bisweilen stur, entscheidungsschwach, mindestens eigenwillig. Und seit dem WM-Desaster 2018 wirkte der 61-Jährige auch irgendwie aus der Zeit gefallen. «Erstmal freue ich mich auf die Zeit, die nach der EM kommt. Da kann ich mich auch mal wieder anderen Dingen in meinem Leben widmen», sagte er vor dem Turnierbeginn zur DFB-Rente. Wenn der Druck abgefallen ist, werde «vielleicht auch mal eine gewisse Leere kommen». Den Job des Lebens gibt es nur einmal, egal, ob Löw nochmal ein Trainer-Comeback geben wird, irgendwo, irgendwann.