Fans des SSC Neapel jubeln über das 1:1 und den Gewinn des italienischen Meistertitels. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Andrew Medichini/AP)

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Ära von Diego Maradona ist der SSC Neapel zurück auf dem italienischen Fußball-Thron. Hunderttausende Fans am Fuße des Vesuvs feierten im Schein von Feuerwerksraketen und bengalischen Fackeln den historischen Coup, den ihnen das Überraschungsteam des Jahres mit einem Remis im fernen Udine beschert hatte.

Schon am frühen Freitagmorgen aber legte sich ein Schatten über die wilde Titelparty in der ohnehin chaotischen Hafenstadt: Mindestens ein Mann wurde in der Nacht erschossen, laut Berichten kamen Hunderte Menschen mit teils schweren Verletzungen in die Notaufnahmen der Krankenhäuser.

Sorge vor Ausschreitungen

Ähnlich groß wie die Vorfreude der seit 33 Jahre darbenden Tifosi auf den Triumph in der Serie A war zuletzt die Sorge der Behörden vor Ausschreitungen bei den Meisterfeiern. Sie waren teils gerechtfertigt: Mehr als 200 Verletzte zählte die Gesundheitsbehörde am Morgen, rund die Hälfte davon mittelschwer und schwer, wie die «Gazzetta dello Sport» berichtete. Brandwunden an den Händen wegen Böllern und Leuchtraketen, Blessuren an Augen und im Gesicht, Stichwunden, Rauchvergiftungen: die Liste der Verletzungen war lang.

Ein 26-Jähriger starb im Krankenhaus an den erlittenen Schusswunden, drei weitere Leute wurden ersten Erkenntnissen zufolge bei dem Vorfall nahe des Hauptbahnhofs verletzt. Als der Tod des Mannes bestätigt war, stürmten Angehörige und Freunde in die Klinik und demolierten Teile der Notaufnahme. Bürgermeister Gaetano Manfredi berichtete am Freitag, dass die Schießerei nicht im Zusammenhang stand mit den Fußballfeiern, sondern dass diese höchstens als Vorwand genutzt wurden, um möglicherweise alte Rechnungen unter Kriminellen zu begleichen.

Die Partys hatten die ganze Nacht angehalten, vor allem im einst berüchtigten Spanischen Viertel unterhalb der in blau angeleuchteten Festung des Castel Sant’Elmo oder am Hafen in Sichtweite des mächtigen Vesuvs. Die Szenen gingen um die Welt, auch im fast 900 Kilometer entfernten Udine blickten Spieler und Trainer des SSC mit leuchtenden Augen auf die Live-Bilder aus der Heimat. «Napoli, das ist für dich!», schrie Erfolgscoach Luciano Spalletti in das Mikrofon von Dazn.

Tränen bei Trainer und Spieler

Der normalerweise so besonnene und eloquente Trainer tat sich im Interview zunächst schwer, Worte zu finden für das Erreichte. Als er dann seine Familie und den verstorbenen Bruder Marcello erwähnte, kamen Spalletti die Tränen.

Dribbelkünstler Chwitscha Kwarazchelia – die Serie-A-Entdeckung der Saison – hatte da schon längst in der Kabine in eine georgische Fahne eingewickelt geweint. Der TV-Experte, gebürtige Neapolitaner und ehemaligen SSC-Profi Ciro Ferrara wurde vor der Kamera von den Gefühlen überwältigt, als er an seine Anfangszeit als Spieler an der Seite von Maradona dachte.

Der argentinische Weltstar hatte Napoli die beiden ersten Meistertitel 1987 und 1990 beschert, seitdem ist er in der Stadt ein Heiliger. An unzähligen Häusern prangen teils riesige Wandgemälde der 2020 gestorbenen Fußball-Legende. «Napoli im Paradies», titelte die «Gazzetta» am Freitag, der «Corriere dello Sport» forderte: «Verbeugt euch!»

Teamgeist statt Superstar

Anders als vor drei Jahrzehnten war es nicht ein Superstar, der das Team zum Erfolg schoss und für riesige Genugtuung sorgte bei den Süditalienern im ewigen Duell mit den verhassten, wohlhabenden Vereinen aus dem Norden, Juventus, Inter und Milan. 28 der 30 jüngsten Meisterschaften gingen an eines der drei großen Teams, nur Lazio und die Roma grätschen dem Trio je einmal dazwischen.

Napoli, das 2004 wegen eines Bankrotts in die dritte Liga versetzt worden war, aber innerhalb von ein paar Spielzeiten das Comeback schaffte, wurde im vergangenen Jahrzehnt viermal Zweiter und dreimal Dritter in der Liga. Nun reichte es für ganz oben.

Der SSC Neapel 2022/23 ist eine Truppe vermeintlicher Nobodys, die alle Experten verblüfft: Da ist etwa der Serie-A-Toptorjäger Victor Osimhen, der vor Jahren noch in Wolfsburg gescheitert war und Napoli nun mit seinem Tor zum 1:1 bei Udine zum Titel schoss.

Oder Kwarazchelia, der in der vorigen Saison noch in der georgischen Liga kickte und in dieser Saison in der Liga und Champions League hochkarätige Verteidiger schwindlig spielte. Oder Kim Min-jae, der im Sommer aus der türkischen Liga kam und ausgerechnet im Land der Defensivkunst einer der stärksten Verteidiger wurde.

Am Sonntag gegen Fiorentina

«Diese Meisterschaft ist super-verdient», resümierte Kapitän Giovanni di Lorenzo in der Nacht mit blau schimmernden Haaren. Der Europameister war wie viele seiner Teamkollegen in der Kabine der Dose Haarfärbespray nicht entkommen. Am Freitagnachmittag stand für das Team der Rückflug aus Udine an, am Sonntag soll die Sause im Heimspiel gegen Fiorentina dann weitergehen.

Vereinspräsident Aurelio de Laurentiis wagte bereits die erste Kampfansage für die Zukunft, er will den Titel «wieder gewinnen, dann wieder gewinnen, dann wieder gewinnen», sagte er. «Und dann fehlt natürlich noch die Champions League.» Dass Träume in Erfüllung gehen können, und wenn auch nach mehr als 30 Jahren, das hat Neapel eindrucksvoll gezeigt.

Manuel Schwarz, dpa
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