Das DFB-Team um Florian Wirtz (r) und Jamal Musiala feierte einen furiosen EM-Start. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Peter Kneffel/dpa)

Als Julian Nagelsmann mit breiter Brust die erste rauschende EM-Party mit seinen Frühstartern im Mittelkreis der Münchner Arena feierte, ertönte passenderweise der neue deutsche Fußball-Hit «Völlig losgelöst». Euphorisiert gingen die Jungstars Florian Wirtz, Jamal Musiala und Co. anschließend auf die erste Ehrenrunde des Turniers.

Die große Sommer-Party läuft – und wie. Mit feinstem Zauberfußball haben Wirtz und Musiala der deutschen Nationalmannschaft beim 5:1 (3:0) gegen Schottland den ersehnten EM-Traumstart beschert. Nach dem perfekten Auftaktabend mit dem frenetisch bejubelten höchsten deutschen EM-Sieg ist ein neues Sommermärchen nicht mehr nur ein vager Traum. Die Fans in der ausverkauften Münchner Arena feierten ein erstes Fest in Schwarz-Rot-Gold.

Schottland lange in Unterzahl

Die überragenden Jungstars Wirtz (10. Minute) und Musiala (19.) sowie Kai Havertz per Foulelfmeter (45.+1), Top-Joker Niclas Füllkrug (68.) und Emre Can (90.+3) erzielten vor 66.000 Zuschauern die Tore. Schottlands Ryan Porteous sah nach einem üblen Tritt gegen Ilkay Gündogan, der kurz vor der Halbzeitpause zum Strafstoß führte, die Rote Karte. Der schottische Treffer durch ein Eigentor von Antonio Rüdiger war nur ein Schönheitsfehler (87.).

«Wir wollten logischerweise gut starten, das haben wir gemacht. Schottland nie ins Spiel kommen lassen und souverän gewonnen. Wir haben uns belohnt für eine gute Anfangsphase. Das gibt einer Mannschaft beim ersten Spiel einer Heim-EM auch Selbstvertrauen. Dazu war der Gegner natürlich auch nicht in Topform, spätestens nach der Roten Karte war es entschieden», sagte Toni Kroos bei MagentaTV.

Mit schnellen Kombinationen und dem lange vermissten Tor-Punch gelang der DFB-Elf nach drei Turnierstartpleiten wieder das wichtige Sieg-Signal im ersten Spiel – wie bei der Heim-WM 2006. Energisch angetrieben und taktisch perfekt eingestellt von Bundestrainer Julian Nagelsmann zeigten Kapitän Gündogan und seine Kollegen, dass sie dem großen Gastgeber-Druck standhalten können.

Am Mittwoch in Stuttgart ist mit einem weiteren Erfolg im zweiten Turnierspiel gegen Ungarn sogar schon der Einzug ins Achtelfinale möglich – allerdings dürfte der Gegner dann viel mehr Gegenwehr leisten als die vom deutschen Powerfußball geschockten Schotten.

Emotionaler Moment durch Heidi Beckenbauer

Bevor der Ball rollte, wurde es zum Ende der knapp 15-minütigen Eröffnungsfeier emotional. Franz Beckenbauers Witwe Heidi brachte den silbernen Henri-Delaunay-Pokal auf den Rasen. Flankiert wurde sie von den EM-Ikonen Bernard Dietz und Jürgen Klinsmann, den Kapitänen der siegreichen Teams von 1980 und 1996. Bevor Heidi Beckenbauer den Rasen wieder verließ, warf sie einen Kuss Richtung Himmel. Deutschlands Fußball-Legende war am 7. Januar dieses Jahres im Alter von 78 Jahren gestorben.

Und der Auftakt dürfte in der stimmungsvollen Münchner Arena, darunter auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ganz nach dem Geschmack des Kaisers gewesen sein. Die deutsche Mannschaft übernahm direkt das Kommando. Nicht einmal eine Minute war gespielt, als Wirtz in allerdings abseitsverdächtiger Position erstmals den schottischen Torhüter Angus Gunn prüfte. Schnelles Kurzpassspiel, frühes Pressing, hohe Ballbesitzanteile – das DFB-Team war direkt auf Betriebstemperatur.

Frühes Tor wie beim Sommermärchen 2006

Und es gelang der erhoffte frühe Treffer. So wie 2006, als Philipp Lahm bereits nach sechs Minuten gegen Costa Rica den Startschuss zum Sommermärchen gab. Dieses Mal war es nach zehn Minuten so weit. Über Kroos, den genialen Lenker im Mittelfeld, und Joshua Kimmich kam Wirtz zum Schuss, Gunn kam nur noch mit den Fingerspitzen an den Ball. Bundestrainer Nagelsmann, der vor dem Spiel noch ein wenig Nervosität eingeräumt hatte, feierte das Tor mit einem Jubellauf. «Die sind heiß, die haben Lust, die haben Hunger», hatte der jüngste deutsche Turnier-Trainer angekündigt – und Recht behalten.

Der deutsche Hochgeschwindigkeitsfußball ließ den lautstarken schottischen Anhang ein wenig verstummen. 10 000 Fans der Tartan Army waren im Stadion, mehr als 100 000 Schotten in der Stadt. Und die waren vollends bedient, als auch der zweite Zauberer im deutschen Team traf. Nach feinem Zuspiel von Havertz setzte Musiala den Ball in die Maschen, vorausgegangen war ein Traumpass von Gündogan.

Fans singen: «Oh, wie ist das schön!»

Die gesamte deutsche Bank sprang auf und applaudierte, was auch den Zusammenhalt dokumentierte. Und von den Rängen schallte es nach nur 21 Minuten: «Oh, wie ist das schön!» Glücksgefühle, auf die die von drei schmachvollen Turnieren gebeutelten deutschen Fans lange warten mussten. Mitte der ersten Halbzeit schien gar das dritte deutsche Tor greifbar, als der französische Schiedsrichter Clément Turpin auf den Punkt zeigte. Das Foul an Musiala war aber außerhalb des Strafraums, sodass der Video-Referee intervenierte.

Den Elfmeter gab es aber doch noch – mit Verspätung. Kurz vor der Pause, als Gündogan zum Nachschuss ansetzen wollte, wurde er rüde von Porteous von den Beinen geholt. Eine Szene, die zunächst Schlimmstes für den deutschen Kapitän zu befürchten ließ. Folgerichtig flog der Schotte nach kurzem Videostudium vom Platz, und Havertz ließ sich die Chance nicht nehmen. Welch ein Gala-Auftritt der Nagelsmann-Elf zum EM-Start. Zum ersten Mal erzielte das DFB-Team in der ersten Halbzeit bei einer Europameisterschaft drei Tore. Die vielen Rückschläge und Niederlagen aus der Vergangenheit waren mit einem Schlag vergessen.

In Überzahl hatte die deutsche Mannschaft von den ohnehin harmlosen Schotten nichts mehr zu befürchten. Rüdiger (51.), Wirtz (58.), der nun jüngster deutsche EM-Torschütze ist, und Maximilian Mittelstädt (65.) besaßen weitere gute Gelegenheiten. Das konnte für die Bravehearts nicht lange gut gehen – ging es auch nicht. Joker Füllkrug, der für Wirtz ins Spiel kam, wuchtete den Ball ins obere Toreck. Danach durfte auch Routinier und Fan-Liebling Thomas Müller vor heimischer Kulisse ran. Auf sein erstes EM-Tor muss der Münchner trotz guter Kopfball-Chance (80.) aber weiter warten. Der ausgelassenen Party-Stimmung machte dies keinem Abbruch – auch nicht das unglückliche Eigentor von Abwehrchef Rüdiger. Der gerade erst nachnominierte Can setzt gar noch den Schlusspunkt.

Von Arne Richter, Klaus Bergmann, Christian Kunz, Manuel Schwarz und Stefan Tabeling, dpa
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