Der ukrainische Nationaltrainer Andrej Schewtschenko spürt die Liebe seines Landes. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Andrew Milligan/PA Wire/dpa)

Stürmerlegende Andrej Schewtschenko spürte die Liebe der gesamten Ukraine, Torschütze Alexander Sintschenko sprach von einem historischen Ereignis: Nach dem «Gemetzel von Glasgow» schwebt der Außenseiter auf einer Euphoriewolke Richtung EM-Viertelfinale gegen England.

«Mit dieser Leistung und diesem Engagement hat sich unser Team die Liebe des ganzen Landes verdient», schwärmte Trainer Schewtschenko pathetisch nach dem spannenden 2:1 (1:1, 1:1) nach Verlängerung über Schweden in Glasgow.

Im Stadion taumelten die ukrainischen Fans nach dem überraschenden Siegtreffer in allerletzter Sekunde übereinander und ließen Coach «Schewa» immer wieder in Sprechchören hoch leben. Der Rekordtorschütze, der bei der EM 2012 selbst gegen Schweden getroffen hatte, winkte in die Zuschauerränge und schlug sich emotional mit der Hand aufs Herz. Der frühere Stürmer-Star, 2004 «Europas Fußballer des Jahres», hat das Team, das sich für die letzten drei Weltmeisterschaften nicht qualifizieren konnte, auf Linie gebracht. In der Nations League stiegen die Blau-Gelben souverän in Gruppe A auf, dort überraschten sie mit einem 1:0-Heimsieg über Spanien.

Jubel auf den Straßen in Kiew

Gut 2300 Kilometer entfernt jubelten in Kiew die Menschen auf den Straßen, die Ehefrauen der Nationalspieler Andrej Jarmolenko und Sergej Sidortschuk tranken auf den Erfolg des Teams, und Bürgermeister Vitali Klitschko feierte den «Willen zum Sieg». Schon nach Mitternacht war es in der ukrainischen Hauptstadt, als Joker Artjom Dowbik (120.+1) das Siegtor erzielte. «Mein Rat an alle – lasst uns feiern, wir leben nur einmal und wir werden diese Momente vielleicht nie wiederholen», forderte Sintschenko von Manchester City, der das erste Tor erzielt hatte (27.), die Menschen in der Heimat zum Feiern auf. Und die Boulevardzeitung «KP» tönte: «Wir fordern morgen arbeitsfrei für das ganze Land!»

In die Jubelarie stimmte auch Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj ein. «Wir sind stolz auf Euch im ganzen Land!», schrieb er am Mittwoch bei Facebook. Die Nationalmannschaft sei das Team von mehr als 40 Millionen Menschen – von Uschgorod in Transkarpatien über Luhansk im Konfliktgebiet im Osten des Landes bis nach Simferopol auf der von Russland einverleibten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

Es war ein harter Kampf, den sich beide Mannschaften vor 9221 Zuschauern in der schottischen Metropole lieferten. «In der Verlängerung verwandelte sich das Spiel in ein richtiges Gemetzel mit Verletzungen und Platzverweis», urteilte das ukrainische Webportal «Segodnja». Angreifer Artjom Bessedin musste nur acht Minuten nach seiner Einwechslung wieder raus – die Attacke von Verteidiger Marcus Danielson wertete Schiedsrichter Daniele Orsato aus Italien nach Ansicht der Fernsehbilder als grobes Foulspiel und zückte Rot (98.).

Für Bessedin ist das Turnier beendet. «Wir hoffen, dass die Kniebänder nicht beschädigt sind», sagte Schewtschenko nach dem Spiel. Am Tag danach aber kam die niederschmetternde Diagnose: Schäden an mehreren Beinmuskeln habe er erlitten, teilte der Verband mit. Zudem werde ein Kreuzbandriss nicht ausgeschlossen. Weitere Details sollten kommende Untersuchungen erbringen. «Die Jungs werden sogar für Bessedin gegen England spielen», sagte Schewtschenko.

Rote Karte umstritten

Der Platzverweis gegen Danielson erhitzte die Gemüter. «Lächerlich», schimpfte Englands Fußball-Legende Gary Lineker bei Twitter, der Verteidiger habe deutlich und früh den Ball gespielt. Hingegen urteilte der frühere Bundesliga-Schiedsrichter Lutz Wagner in der ARD, nach den Vorgaben sei der Platzverweis gerechtfertigt gewesen – eine Position, die letztlich sogar Schwedens Trainer Janne Andersson unterstützte.

So kämpften Tre Kronor um Offensiv-Ass Emil Forsberg in Unterzahl schließlich vergebens. Auch eine weitere Top-Leistung des Bundesliga-Profis von Vizemeister RB Leipzig, der nicht nur aus der Distanz den vorübergehenden Ausgleich (43.) erzielte, sondern auch je einmal Pfosten und Latte traf, reichte nicht. Vier Tore in vier Spielen erzielte Forsberg – und war doch herb enttäuscht.

«Das ist im Moment scheißegal. Ich hätte lieber kein Tor geschossen und wir wären weitergekommen», sagte er: «Dieses Tor in der letzten Minute ist mit das Schwierigste, was ich in meiner Karriere durchgemacht habe.» Auch für Trainer Andersson war es «das Schlimmste, was ich im Fußball je erlebt habe». Für die Zeitung «Aftonbladet» verloren die Schweden «auf die ekelhafteste Art und Weise, die man sich denken kann».

Von Benedikt von Imhoff, Andreas Stein und Sigrid Harms, dpa
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