Italien spielt am Sonntag im Finale in Wembley um den EM-Titel. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Laurence Griffiths/Pool Getty/AP/dpa)

Inmitten des euphorischen Jubels über das italienische Final-Märchen dachte Roberto Mancini nicht an das bevorstehende große Endspiel, sondern noch einmal zurück.

An all die Häme und Kritik, mit der die italienische Fußball-Nationalelf bei seinem Start nach der verpassten WM 2018 überschüttet wurde. «Niemand hat an uns geglaubt, als wir angefangen haben. Niemand», sagte der 56 Jahre alte Trainer, der nach dem vorläufigen Höhepunkt der beeindruckenden EM-Reise voller Stolz auf sein Team blickte: «Ich muss mich bei den Jungs bedanken, die immer daran geglaubt haben. Aber es gibt noch etwas zu erledigen.»

Nun gegen England in Wembley

Nach der bestandenen ultimativen EM-Reifeprüfung mit einem 4:2 im Elfmeterschießen gegen starke Spanier wollen die Azzurri nun im Endspiel am Sonntag (21.00 Uhr) im Wembley-Stadion gegen England den zweiten EM-Triumph für Italien nach 1968 nach Hause bringen. «Noch ist nichts erreicht», mahnte Mancini, der mit seinem Team nun seit unglaublichen 33 Spielen in Serie unbesiegt ist. Verteidiger Leonardo Bonucci versprach: «Jetzt fehlt nur noch ein Zentimeter. Wir werden Sonntag mit der gleichen Aggressivität auf den Platz gehen, um das nach Hause zu bringen, was uns seit über 50 Jahren fehlt.»

Das zweite Halbfinale zwischen England und Dänemark schauten sich die Azzurri am Mittwochabend entspannt bei einem gemeinsamen Grillabend im Teamquartier in Florenz an. «Wir werden das Spiel genießen und sehen dann, auf wen wir treffen», hatte Federico Chiesa angekündigt, der nach seinem Treffer zum 1:0 (60. Minute) einer der italienischen EM-Helden. Die übrigen Hauptrollen gingen an diesem denkwürdigen Abend an Mittelfeldspieler Jorginho, der den entscheidenden Elfmeter verwandelte, und an Torhüter Gianluigi Donnarumma, der den Versuch von Álvaro Morata parierte. «Diese Emotionen kann man nicht beschreiben», sagte der 22 Jahre alte Keeper. «Ich genieße das mit meinen Teamkollegen und widme den Elfmeter Leonardo Spinazzola.»

Der verletzte Teamkollege war den ganzen Abend über präsent. Lorenzo Insigne trug während der Feier mit den Fans im Stadion und auch später bei der Rückreise das Trikot mit der Nummer vier des Linksverteidigers, der sich nach ganz starken Auftritten bei diesem Turnier im Viertelfinale die Achillessehne riss und mehrere Monate ausfällt. Nun soll er wenn möglich als Zuschauer zum Finale nach Wembley reisen, den Einzug ins Endspiel verfolgte er zu Hause mit eingegipstem Bein und laut jubelnd auf der Couch.

Seine Teamkollegen feierten im Bus ausgelassen mit dem fast schon obligatorischen WM-Hit 1990 «Un’estate italiana» von Gianna Nannini ihre nächste «magische Nacht». Direkt nach dem Spiel ging es zurück nach Florenz, wo im Morgengrauen Fans italienische Fahnen schwenkten und ihre Lieblinge begrüßten. «Was für Löwen! Ihr seid unsere Brüder Italiens», titelte «Tuttosport» am Tag nach dem Final-Einzug, der eine ganze Nation in einen kollektiven Freudentaumel versetzte. «Eine schöne, mutige und begeisternde Nationalelf», jubelte die Regierung noch in der Nacht auf Twitter. «Der Traum geht weiter.»

«Italien ist weiter großartig»

Für viele ist dies ein Verdienst des Trainers, der beeindruckende Aufbauarbeit leistete. «Italien ist weiter großartig, zum vierten Mal sind wir im EM-Finale. Meisterwerk Mancinis», meinte der «Corriere dello Sport». In drei Jahren ist es dem früheren Weltklasse-Stürmer gelungen, eine in Trümmern liegende Mannschaft wieder aufzurichten, umzubauen und nun zum größten Erfolg ihrer jüngsten Geschichte zu frühen. «Nur ein Verrückter hat vor drei Jahren an uns geglaubt, und das war der Trainer», sagte Federico Bernardeschi.

Dabei vollzog die Mannschaft bei diesem Turnier auch den Wandel von den stets zynisch und knallhart verteidigenden italienischen Teams zu einer Elf, die mutig und offensiv spielt, die Fans mitreißt und mit ihrem Fußball begeistert. Gegen Spanien – den bislang wohl stärksten Gegner der Azzurri bei dieser EM, der dem Team alles abverlangte – waren dann aber doch wieder die alten Tugenden gefragt. «Am Ende haben wir es auf die italienische Art gewonnen: Mit dem Messer zwischen den Zähnen, mit der Fähigkeit zu verteidigen, zu leiden und wieder aufzustehen», schrieb die «Gazzetta dello Sport».

Doch auch das gehört zum Konzept Mancinis: Sich dem Gegner anpassen, flexibel spielen, immer eine Lösung parat haben. «Man muss angreifen und verteidigen, man kann nicht nur angreifen. Es gibt auch Partien, wo man leiden muss, es geht nicht immer nur schön», verteidigte der Nationaltrainer seine Elf, die gegen Spanien mehr mit Kampf und Leidenschaft als mit spielerischer Brillanz weiterkam.

Für den Coach sind all das wichtige Entwicklungsschritte seiner Elf. «Es war ein langfristiges Projekt und auch ein langer Prozess. Die Jungs wollten etwas anderes schaffen. Die schwierigsten Sachen sind die schönsten», sagte er. Gekrönt werden soll dieses Märchen nun am Sonntag mit dem Titel: «Wir müssen die verbliebenen Kräfte sammeln, weil wir noch ein Finale gewinnen wollen», kündigte Mancini an.

Von Miriam Schmidt, Jan Mies und Nils Bastek, dpa
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