Am Samstagabend spielt der BVB in Wembley das Champions-League-Finale gegen Real Madrid. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Kirsty Wigglesworth/AP/dpa)

Von Ehrfurcht war am überschaubaren Dortmunder Flughafen keine Spur. Mats Hummels grinste fröhlich mit dicken Kopfhörern auf den Ohren, Trainer Edin Terzic lächelte für Selfies mit einigen der 300 Fans: Borussia Dortmund ist mit großer Zuversicht und betonter Lockerheit zum dritten Champions-League-Finale der Clubhistorie nach London gereist. Dort wartet am Samstag (21.00 Uhr/ZDF und DAZN) Rekord-Titelträger Real Madrid als schier übermächtiger Gegner. «Wie haben den festen Glauben, etwas Großartiges erreichen zu können», sagte Terzic. 

Auch Sportdirektor Sebastian Kehl betonte «die große Chance, die wir haben. Wir haben eine fantastische Champions-League-Saison gespielt und große Namen ausgeschaltet und stehen jetzt verdientermaßen im Finale gegen Real Madrid. Dieses Finale ist mit nichts zu vergleichen.» Kehl meinte sogar forsch: «Wir wollen Großes leisten. Und dazu sind wir bereit. Wir haben die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben.»

Dabei ist Real Madrid gegen Borussia Dortmund zumindest auf dem Papier das wohl eindeutigste Finale vergangenen Jahre. Auf der einen Seite: Der 14-malige Gewinner dieses Wettbewerbs, der seit 41 Jahren kein Europapokal-Endspiel mehr verloren hat. Auf der anderen Seite: der Tabellenfünfte der abgelaufenen Bundesliga-Saison.

Routinier gegen Trainer-Talent

Auf der einen Seite: Reals Carlo Ancelotti (64), der mehr Champions-League-Titel gewonnen hat als jeder andere Trainer dieser Welt (4). Und auf der anderen Seite: Der 23 Jahre jüngere Terzic, dessen Trainerstuhl in Dortmund noch vor drei Monaten in der öffentlichen Wahrnehmung gehörig wankte – auch wenn BVB-Boss Watzke Terzic vor dem großen Finale noch einmal demonstrativ den Rücken stärkte: «Ich kann sagen, dass Edin nicht gewackelt hat! Punkt», sagte Watzke der «Bild» (Freitag): «Wir haben gesagt, wir ziehen das durch, und wir haben es durchgezogen.»

Zumindest in der Champions League mit Erfolg. Aus der scheinbar einseitigen Konstellation zieht Terzic nun viel Kraft. «Wenn du die Champions League gewinnen willst, musst du die Champions schlagen», sagte er. «Jetzt wartet der absolute Champion in der Geschichte des Fußballs auf uns. Der absolute Endgegner, wenn man das in der heutigen Sprache so formulieren will.» Und Terzic ist «felsenfest davon überzeugt, dass in einem Spiel alles möglich ist». 

Mehr als 400.000 Ticket-Anfragen erhielt der BVB für dieses Finale. 25.000 Eintrittskarten bekam der Club von der UEFA zugeteilt. Die Dortmunder Fans reisen mit allem nach London, was sich bewegt: mit Bussen, Zügen, Flugzeugen oder Schiffen. Dazu gibt es allein drei Fanmeilen in der Heimat und Public Viewings für Borussia-Anhänger selbst in Asien und den USA.

Ein nostalgisches Finale

Die große Euphorie, dieser schwarz-gelbe Wahnsinn erinnert an 2013, als der BVB schon einmal im Wembley-Stadion das Endspiel gegen Bayern München unglücklich mit 1:2 verlor. «Wir haben das Gefühl, dass wir noch eine Rechnung haben. Dass wir in dieser Stadt, in diesem Finale noch etwas gutzumachen haben», sagte Kehl, der vor elf Jahren noch der Kapitän war.

Rein sportlich gesehen ist das Finale von 1997 aber wohl die passendere Referenz. Der Gegner Juventus Turin dominierte den europäischen Fußball damals ähnlich, wie Real Madrid das in den vergangenen Jahren tat. Trotzdem feierten die Dortmunder damals den bislang einzigen Champions-League-Sieg ihrer Vereinsgeschichte (3:1).

«So einen Titel nimmt man sein Leben lang mit», sagte Lars Ricken, damals Siegtorschütze und heute Geschäftsführer des BVB, bei Sky. «Was ich so spüre, ist: Dass wirklich der absolute Glaube da ist, dass die Zuversicht und Selbstbewusstsein da sind.»

Dortmund 23/24 als Anti-Dortmund

In der Hinsicht ist diese Dortmunder Mannschaft ein Phänomen. In der Bundesliga hat sie sich über Jahre den Ruf erarbeitet, besonders wankelmütig zu sein. Die verspielte Meisterschaft im vergangenen Jahr gegen Mainz 05 war dafür das stärkste Indiz. In dieser Champions-League-Saison aber hat die Borussia eine Widerstandsfähigkeit entwickelt, die ihr spätestens nach dem Trauma des letzten Bundesliga-Spieltags 2023 kaum jemand mehr zugetraut hätte.

Im entscheidenden Vorrunden-Spiel bekam der AC Mailand schon nach fünf Minuten einen Elfmeter. Im Viertelfinal-Hinspiel drohte Atlético Madrid die Dortmunder regelrecht aufzufressen. Im Halbfinale traf Paris Saint-Germain insgesamt sechsmal Pfosten oder Latte. Aber im Finale steht an diesem Samstag: der BVB.

Der große Unterschied sei: «Gegen Mainz 05 hatten wir etwas zu verlieren. Jetzt haben wir etwas zu gewinnen», sagte der Nationalspieler Nico Schlotterbeck zur Situation vor einem Jahr. «Die ganze Welt schaut auf dich. Hoffentlich können wir das auch genießen und haben nicht zu viel Angst vor dem Namen Real Madrid.»

Verständlich wäre das schon. Dieses Real verkörpert Weltklasse auf allen Positionen und in allen Altersklassen. In seinem letzten Spiel für den Club kann der deutsche Nationalspieler Toni Kroos am Samstagabend zu einem der Rekordsieger in der Geschichte der Königsklasse aufsteigen. Sechs Titel gewann der Spanier Francisco Gento mit diesem Club in den 50er- und 60er-Jahren. Bei fünf Champions-League-Siegen stehen die aktuellen Real-Stars Kroos, Luka Modric, Nacho Fernandez und Dani Carvajal.

Nachzahlung für Bellingham möglich

«Es wird mir nicht schwerfallen, dass das jetzt mein letztes Spiel für Real Madrid ist», sagte Kroos in einem DAZN-Interview. «Diesen Moment des Abschiedsgefühls hatte ich mit dem letzten Heimspiel vor unseren Fans. Jetzt ist es einfach nur wieder die Vorfreude, noch einmal diesen Titel zu holen.»

Für Jude Bellingham wäre es der erste Champions-League-Sieg. Für 103 Millionen Euro wechselte er im vergangenen Jahr von Dortmund nach Madrid. In dem Transfervertrag vereinbarten beide Clubs noch eine weitere Nachzahlung in Millionenhöhe, falls der 20 Jahre alte Engländer mit Real nach der spanischen Meisterschaft auch noch den wichtigsten Titel des europäischen Fußballs gewinnt. Sollte der BVB am Samstagabend verlieren, hätte er so wenigstens einen kleinen Trost. Sollte er den großen Favoriten aber schlagen, hätte er vermutlich noch nie so gern auf so viel Geld verzichtet. 

Von Carsten Lappe und Sebastian Stiekel, dpa
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