Roberto Martínez sah aus wie ein glücklicher Mann.
Während andere Nationaltrainer am dritten EM-Spieltag ums Weiterkommen, die nationale Fußball-Ehre und ihren eigenen Job kämpfen müssen, konnte der Spanier mit Belgiens Red Devils beim 2:0 gegen Außenseiter Finnland genüsslich ein paar Sachen für den nun anstehenden Ernstfall K.o.-Runde ausprobieren.
Reicht es bei Superstar Kevin De Bruyne schon wieder für mehr als einen Jokereinsatz? Hält der Knöchel von Kapitän Eden Hazard? Schafft Axel Witsel – gerade mal fünf Monate nach einem Achillessehnenriss – schon wieder 90 Minuten? Alle drei Fragen durften Martínez und sein Stab mit einem deutlichen «Ja!» beantworten, was vor allem den Chefcoach nach der makellosen Vorrunde mit neun Punkten zufrieden stellte.
«K.o.-Phase wird ganz anders sein»
«Es ist ein perfekter Moment, in die K.o.-Runde zu starten. Wir sind sehr erfreut über das, was wir bisher geschafft haben», sagte der 47-Jährige, für dessen Team es am Sonntagabend (21.00 Uhr) in Sevilla mit dem Achtelfinale weitergeht. Dass die kurz- und langfristigen Fußball-Patienten nun allesamt rechtzeitig fit und in Form sind, ist eine Punktlandung, die sich die Belgier im Trainingscamp in Tubize vor ein paar Wochen genau in dieser Art gewünscht haben.
Im spanischen Glutofen mit bis zu 30 Grad in den späten Abendstunden wartet auf Belgien der erste große Test, nachdem die Vorrunde maximal ein besseres Einspielen im Turnierformat war. So sah es auch Starspieler De Bruyne. «Aus der Gruppenphase habe ich nicht wirklich viel mitgenommen. Die K.o.-Phase wird ganz anders sein. Wir wissen, dass wir ab jetzt keinen Fehler machen können. Wenn du Fehler machst, gehst du nach Hause», warnte der Offensivmann von Manchester City.
«Eine tödliche Kombination»
Die Zeit scheint endgültig reif für einen Titelcoup der Belgier. Wie Italien und die Niederlande kam man mit neun Zählern durch die ersten Spiele, doch im Gegensatz zu den beiden Rivalen trat man ohne Heimvorteil an und hatte mit den emotional extrem aufgeladenen Dänen den bisher schwersten Gegner dieses Trios zu spielen.
Martínez – ein in der Premier League hochgehandelter Coach – kann mit den Egos im Kader bestens umgehen und wird komplett respektiert. Und die individuelle Qualität in der Offensive ist bei diesem Turnier kaum zu überbieten. Der bullige Romelu Lukaku hat bereits drei Turniertore erzielt und gilt als einer der besten Mittelstürmer der Welt. Dazu kommt das unfassbare Tempo, das Weltfußballer-Kandidat De Bruyne mit exzellenter Technik paart. «Eine tödliche Kombination», schrieb Lukaku zu einem Foto von sich und De Bruyne auf Twitter.
Fragezeichen hinter der Defensive
Das größte belgische Problem dürfte im Ernstfall einmal mehr die Defensive sein. Eine gesetzte Dreierkette gibt es nicht und jeder der fünf Verteidiger hat sein eigenes Manko: Toby Alderweireld, Jan Vertonghen und Thomas Vermaelen haben die 30 deutlich überschritten und sind nicht mehr die Antrittsstärksten. Herthas Dedryck Boyata war lange verletzt, Jason Denayer ist fehleranfällig, wie er gegen Dänemark bewies. Und auf der Außenbahn muss es ohne Timothy Castagne gehen, der im Auftaktspiel einen doppelten Augenhöhlenbruch erlitt. «Er fehlt uns», klagte Martínez.
Schaut man sich die bisherigen Turniere der goldenen Generation Belgiens genauer an, ist ein gewisser Reifeprozess zu erkennen. Bei der WM 2014 war das junge Team noch nicht abgezockt genug und unterlag Argentinien im Viertelfinale. Zwei Jahre später präsentierte sich Belgien bereits wie ein Turnierfavorit – zumindest bis zum komplett unerwarteten Aus im Viertelfinale gegen Wales. 2018 in Russland besiegte die Martínez-Elf Rekordweltmeister Brasilien und verlor im Halbfinale gegen den späteren Champion Frankreich nur nach einem Standard.
Und nun? «Bisher war es okay. Jetzt ist es alles oder nichts. Wir machen alles, dass wir gut in Form kommen», sagte De Bruyne. Was neben der löchrigen Defensive noch gegen Belgien sprechen könnte, ist der schwierige Weg durchs Turnier. Im Achtelfinale von Sevilla ist eine Begegnung mit dem Dritten der Deutschland-Gruppe F möglich, was je nach Ausgang entweder Weltmeister Frankreich, Titelverteidiger Portugal oder die DFB-Elf sein könnte. Im Viertelfinale wäre dann ein Duell mit den bisher furiosen Italienern möglich.