Italiens Spieler feiern nach dem Spiel mit dem Pokal die Europameisterschaft. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

Italiens Kapitän Giorgio Chiellini küsste den silbernen EM-Pokal und lächelte ihn verliebt an. Dann stemmte der Abwehr-Oldie die Trophäe mit weit aufgerissenem Mund in den Londoner Nachthimmel.

Nach einem Strafstoß-Drama in Wembley gegen England haben die Azzurri den Fußball-Tempel in Schockstarre versetzt und mit ihren Fans den zweiten EM-Titel nach 1968 gefeiert.

«Wir haben gespürt, dass etwas Magisches in der Luft lag. Wir haben es verdient, ganz Italien hat es verdient», sagte Chiellini. «Wir haben Geschichte geschrieben, genießen wir es.» Italiens Trainer Roberto Mancini vergoss Freudentränen in den Armen von Delegations-Chef Gianluca Vialli. Elfmeter-Held Gianluigi Donnarumma wurde von seinen Mitspielern zu Boden gedrückt und gefeiert.

Während Italien in London tanzte und lachte, waren die Three Lions nach dem nächsten Elfmeter-K.o. untröstlich. «Es ist das schlimmste Gefühl, wenn man verliert. Es war ein fantastisches Turnier von uns. Wir müssen den Kopf oben behalten. Aber natürlich tut es weh, es tut sehr weh», sagte Englands Kapitän Harry Kane bei der BBC.

Der Noch-Dortmunder Jadon Sancho weinte nach seinem verschossenen Elfmeter in den Armen von Trainer Gareth Southgate, auf der Bühne drückte Prinz William seinen traurigen Sohn George. Nach dem nächsten Titel-Trauma müssen die Engländer 55 Jahre nach ihrem einzigen großen Erfolg bei der WM 1966 weiter auf die Erlösung warten.

Vor der spektakulären Wembley-Atmosphäre von 67.173 Zuschauern setzten sich die Italiener am Sonntag in einem intensiven und hochspannenden Endspiel mit 3:2 im Elfmeterschießen durch. Nach 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden. Die Azzurri steckten den Schock des frühen Rückstandes durch Luke Shaw (2. Minute) weg und glichen zunächst durch Leonardo Bonucci aus (67.).

England findet keine Erlösung

Im Elfmeterschießen vergaben die Engländer Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka. Donnarumma wurde nach seinen Glanztaten zum Spieler des Turniers gekürt. Rashford scheiterte am Pfosten, Sancho und Saka am künftigen Schlussmann von Paris Saint-Germain. «Wir sind unglaublich enttäuscht. Die Spieler haben alles gegeben, was sie hatten», sagte Southgate. «Aber im Moment tut es einfach sehr weh.»

Italien blieb auch im 34. Spiel in Serie ungeschlagen und belohnte sich drei Jahre nach der verpassten WM 2018 für ein starkes Turnier. Die Three Lions dagegen müssen weiter auf ihren ersten Titel seit dem WM-Erfolg 1966 warten. Auch die frühe Führung und eine lange Zeit sehr starke Leistung reichten dem Team von Trainer Gareth Southgate nicht zur Erlösung. Für den Coach war es nach der erfolglosen Heim-EM 1996 zugleich der nächste persönliche Wembley-Rückschlag.

Vor 25 Jahren hatte Southgate im alten Londoner Stadion im EM-Halbfinale als Einziger seinen Elfmeter gegen Deutschland verschossen und den Titel-Traum der Engländer beendet.

Wie emotional aufgeladen die Stimmung war, demonstrierten schon die Szenen Stunden vor dem ersten Pfiff des niederländischen Schiedsrichters Björn Kuipers. Die meisten Fans feierten friedlich, aber nicht wenige benahmen sich auch daneben und versuchten, ohne Tickets in das Stadion zu gelangen. In der Innenstadt herrschte teilweise Ausnahmezustand, es kam auch zu Schlägereien und Gewalt.

Die Lage im Stadion schien aber weitgehend unter Kontrolle, pünktlich um 21.00 Uhr begann der finale Akt der EM. Dass kurz vor Ende der regulären Spielzeit ein Flitzer auf den Platz gelangte, geht nur als Fußnote in die Geschichte dieses denkwürdigen Fußball-Abends ein.

Frühe Führung für England

Southgate begann wie erwartet erst ohne Jadon Sancho und etwas überraschend mit einer Dreierkette – wie bis dato nur beim 2:0-Erfolg im Achtelfinale gegen Deutschland. Und seine Elf begann furios. Keine zwei Minuten waren gespielt als Shaw den bislang besten Konter der Three Lions im ganzen Turnier veredelte. Über Kane landete der Ball beim einen Außenverteidiger Kieran Trippier, dessen Flanke der andere Außenverteidiger Shaw per sehenswertem Dropkick verwertete.

Southgate ballte kurz die Finger zur Faust und klatschte anerkennend, vergrub dann aber wieder sofort beide Hände mit stoischem Gesichtsausdruck in den Hosentaschen. Sein Kollege Mancini, der der gleichen Startelf wie beim 4:2-Sieg im Elfmeterschießen im Halbfinale gegen Spanien vertraute, versuchte mit Lorenzo Insigne zu diskutieren. Doch der Angreifer signalisierte, dass er gar nichts hören könne. Überhaupt schienen die Italiener anfangs beeindruckt und eingeschüchtert von der imposanten Kulisse im Fußball-Tempel.

Vor allem Southgates Systemumstellung erwies sich zunächst als genialer Kniff. Die Vorstöße von Shaw und Trippier über außen bekamen die Azzurri nicht unterbunden, weil deren Offensivkräfte Insigne und Federico Chiesa meistens vorne blieben. Allzu viel gelang ihnen dort nicht – bis zur 35. Minute. Chiesa probierte es aus der Distanz, sein Schuss auf dem regennassen Rasen ging aber knapp am Pfosten vorbei.

Am früheren Dortmunder Ciro Immobile hingegen lief das Geschehen bis zu seiner Auswechslung in der 55. Minute weitgehend vorbei. Marco Verrattis Schuss in der Nachspielzeit der ersten Hälfte stellte Englands Torwart Jordan Pickford vor keinerlei Probleme.

Viel Pathos und Leidenschaft

«God save the Queen» sangen die englischen Fans nach dem Wiederanpfiff. Raheem Sterling suchte einen Elfmeter, der ihm aber – im Gegensatz zum heftig diskutierten Strafstoß im Halbfinale gegen Dänemark – korrekterweise verwehrt blieb (48.). Die Stimmung auf den Rängen konnte diese Szene nicht trüben. Sie kippte erst nach dem tränenreichen Ende des Elfmeterschießens. Dabei hatte die von Prinz William (39) über Queen Elizabeth (95) bis zu Premierminister Boris Johnson (57) die ganze Insel den Three Lions Glück gewünscht.

Der «Sunday Mirror» bezog sich auf Top-Stürmer Kane und druckte die Schlagzeile: «WE KANE BE HEROES» («Wir können Helden sein»). Mit jeder Minute dieses stimmungsvollen Abends rückte die Heldentat näher, ehe sich die Italiener ihr entgegenstemmten und das Geschehen wendeten. Insignes Freistoß ging drüber (51.), Chiesa scheiterte an Pickford (62.). Dann aber schlug der große Moment von Bonucci. Verrattis Kopfball parierte Pickford noch reaktionsschnell, ehe der 34-Jährige aus kurzer Distanz zum verdienten 1:1 abstaubte.

Er ist damit der älteste Spieler, der je in einem EM-Finale getroffen hat. Im Alter von 34 Jahre und 71 Tagen löste er den früheren deutschen Nationalspieler Bernd Hölzenbein ab. Nach einer torlosen Verlängerung ging es an diesem Abend in das Entscheidungsszenario vom Punkt – in dem die Engländer scheiterten und Italien feiern durfte.

Von Nils Bastek, Miriam Schmidt, Jan Mies und Wolfgang Müller, dpa
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