Im riesigen Londoner Wembley-Stadion verdichteten sich die Dramen und Aufreger dieser Europameisterschaft in einem Spiel.
Losgelöst von allen Corona-Warnungen feierten Zehntausende Menschen ohne Abstand und Masken ein mitreißendes Halbfinale, dänische Fans trugen Trikots mit Christian Eriksens Rückennummer 10. Werbebanden leuchteten zeitweise in Regenbogenfarben, viele Zuschauer applaudierten, als die englischen Nationalspieler unmittelbar vor dem Anpfiff als Zeichen gegen Rassismus auf ein Knie gingen. Längst zählt nicht mehr allein das Ergebnis.
«Außergewöhnliche Erfahrung»
Dänemarks Nationaltrainer Kasper Hjulmand sprach am Abend von einer «außergewöhnlichen Erfahrung» bei diesem Turnier, das für die Dänen mit dem Schock um Eriksen begonnen hatte. Der Starspieler war am 12. Juni auf dem Rasen des Kopenhagener Stadions kollabiert und hatte wiederbelebt werden müssen. Die Bilder gingen um die Welt, wurden in den Sozialen Medien geteilt. Es war einfach, mittendrin zu sein. Dänemark erreichte getragen von riesiger Unterstützung das Halbfinale.
Mehr als 60.000 Zuschauer verfolgten Englands 2:1-Sieg nach Verlängerung. Schon vor dem Spiel verbreiteten sich Gerüchte, dass zum Finale am Sonntag gegen Italien sogar 90.000 Fans zugelassen werden – was sich aber nicht bewahrheitete. Trotz der rasant steigenden Infektionszahlen in Großbritannien, die auf die als ansteckender geltende Delta-Variante zurückzuführen sind.
Insbesondere in Deutschland werden die vermeintlich sorglosen Entscheidungen kritisch beäugt – bis hoch zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich schon vor den Halbfinals «sorgenvoll und skeptisch» gezeigt hatte.
Aleksander Ceferin, als Präsident der Europäischen Fußball-Union UEFA der Veranstaltungschef, äußerte sich zuletzt überhaupt nicht mehr. Dem Vernehmen nach wird das auch bis zum Finale so bleiben, was ungewöhnlich ist. Sein vor dem Turnier verbreiteter Satz «Europa lebt und feiert das Leben» könnte rückblickend zynisch wirken.
Die europäische Gesundheitsbehörde ECDC hatte schon vor den Finaltagen einen erheblichen Anstieg der Infektionen im Zusammenhang mit der EM festgestellt. In allen elf Städten über den Kontinent bis nach Aserbaidschan verteilt wurde vor Zuschauern gespielt – so wie es die UEFA wollte. Die Regierungen ließen den Verband gewähren.
Diskussion um Münchner Arena
Was beim Drama um Eriksen bei Twitter, Instagram und Co. tiefes Mitgefühl war, wurde bei Corona und bei der Regenbogen-Diskussion zu Empörung. Wie bei keinem Turnier zuvor wurden politische Themen online teils mit der Absolutheit weitergetragen, die viele gesellschaftliche Debatten lähmt.
Wer als Erster auf die Idee kam, die Münchner Arena zum Heimspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn bunt leuchten zu lassen, ist kaum noch nachzuvollziehen. Die bayerische Landeshauptstadt nutzte die Bewegung und stellte einen offiziellen Antrag bei der UEFA. Dieser war wegen des Bezugs auf das Gesetz in Ungarn, das die Informationsrechte von Jugendlichen in Hinblick auf Homosexualität und Transsexualität einschränkt, aber von Beginn an aussichtslos. Politische Botschaften gegen den einflussreichen, von der EU stark kritisierten Partner Ungarn wollte sich die UEFA nicht erlauben.
Während der Viertelfinalspiele in Aserbaidschan und Russland durften die Werbebanden von UEFA-Partner VW nicht bunt leuchten – dieses Mal verhinderten rückständige Gesetze die Botschaft für Toleranz und sexuelle sowie geschlechtliche Vielfalt. In Baku gab es zudem den Wirbel um eine von Ordnern einkassierte Regenbogenfahne. Eine gemeinsame EM, aber keine gemeinsamen Werte?
Nationalspieler Leon Goretzka formte nach seinem Tor im letzten Gruppenspiel in München beim Jubel mit beiden Händen ein Herz vor der Brust und lief am ungarischen Block vorbei. «Spread Love» (Verbreitet Liebe), twitterte der Profi des FC Bayern kurz nach der Partie. Vor dem Anpfiff des Achtelfinales gegen England knieten die deutschen Nationalspieler gemeinsam mit den Engländern – und überzeugten mit ihrem Bewusstsein für die richtigen Botschaften weit mehr als sportlich.
«Es liegt in meiner Verantwortung», sagte Bundestrainer Joachim Löw nach dem Aus im Spiel in London. Seinen Abschied hatte sich der 61-Jährige anders vorgestellt – europaweit blieb die deutsche Mannschaft nur Randnotiz. Auch Europameister Portugal und Weltmeister Frankreich verabschiedeten sich im Achtelfinale. In der Vorrunde enttäuschten die höher eingeschätzte Türkei mit drei Niederlagen sowie auch Polen um Weltfußballer Robert Lewandowski.
Die sportlichen EM-Geschichten schrieben andere. Österreich erreichte erstmals das EM-Achtelfinale. Die Schweiz schied unglücklich erst im Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Spanien aus. Auch die Ukraine gehört zu den besten acht Teams dieser EM, scheiterte dann aber an England. Die wundersame dänische Reise bis ins Halbfinale hatte vor dem Turnier kaum jemand für möglich gehalten. Anders als vor fünf Jahren in Frankreich bleibt zudem bislang nicht hängen, dass viele biedere Spiele langweilten.