Weit nach Mitternacht verließ der riesige DFB-Tross eskortiert von der katarischen Polizei mit zwei großen Teambussen und Begleitfahrzeugen den nächsten Schreckensort des deutschen Fußballs. Vier Jahre nach dem historischen Vorrunden-Aus bei der Weltmeisterschaft im russischen Kasan steht der staubige Wüstenort Al-Chaur für das nächste blamable WM-Scheitern der Nationalmannschaft schon nach der Gruppenphase.
Hansi Flick saß nach dem 4:2 (1:0)-Sieg gegen Costa Rica, das wegen Spaniens im Kreise des DFB unerwarteter Niederlage gegen Japan (1:2) nicht zum Weiterkommen ausgereicht hatte, bei der Abfahrt aus dem Al-Bait-Stadion mit versteinerter Miene im zweiten Bus. Der 57-Jährige sprach mit DFB-Direktor Oliver Bierhoff, der auf der anderen Seite des Ganges Platz genommen hatte.
Gnabry: «Wir sind selber schuld»
Im Stadion war zuvor immer wieder das Wort «Wut» zu hören, aber auch Selbstanklagen. «Wir sind selber schuld», sagte Serge Gnabry, dessen 1:0 am Ende eines surreal anmutenden Abends ebenso wertlos war wie die Treffer der eingewechselten Kai Havertz (2) und Niclas Füllkrug.
Auf Flick und Bierhoff – die Verantwortlichen im sportlichen Bereich – richtet sich jetzt der Fokus. Beide hatten noch im Schockzustand des nächsten Turnier-Desasters deutlich gemacht, dass sie ihre Arbeit fortsetzen wollen, die Heim-EM 2024 ihr nächstes Ziel sein soll. «Mir macht es Spaß. Wir haben eine gute Mannschaft», sagte Flick.
Er will das ausgerufene und weit verfehlte Ziel Titelgewinn sowie die klar verpasste Rückkehr in die Weltspitze «sehr, sehr schnell» aufarbeiten. «Ich bin immer einer, der sehr kritisch ist, und das wird auch in die Analyse mit einfließen», sagte er. Die werde sehr zeitnah erfolgen.
Bierhoff schloss persönliche Konsequenzen aus. «Ich habe ein sehr gutes Gefühl für mich», sagte der 54-Jährige. Dass aber auch er infrage gestellt wird, war ihm als erfahrenem Profi in der Nacht zum Freitag natürlich sehr wohl bewusst. «Leider habe ich keine Argumente mit drei schlechten Turnieren, die ich dagegenhalten könnte», sagte er.
Festhalten an Thomas Müller wirkte fatal
WM-Vorrunden-Aus 2018, EM-Achtelfinal-Aus 2021, WM-Vorrunden-Aus 2022 – die so stolze Fußball-Nation Deutschland, dekoriert mit vier WM-Titeln und drei EM-Titeln, hat das Gütesiegel Turniermannschaft endgültig verloren. Auch Flick konnte das Potenzial des 26-köpfigen WM-Kaders nicht heben. Er fand im Turnier nach dem Fehlstart gegen Japan nie seine Wunschelf, in der Personalauswahl vercoachte er sich gleich mehrfach – besonders das Festhalten an Thomas Müller wirkte fatal. Flick lieferte zahlreiche Angriffspunkte.
«Wir haben alle einen sehr großen Teil dazu beigetragen, dass wir nach Hause fahren», sagte der Bundestrainer, der wie Bierhoff beim DFB noch eine Vertragslaufzeit bis 2024 hat. In der Nacht wurde nicht nur auf dem Rückweg ins abgelegene Teamquartier im Norden Katars intensiv geredet.
Der nicht mit nach Al-Ruwais gefahrene DFB-Präsident Bernd Neuendorf wird am Freitag vor dem Heimflug der Nationalmannschaft von Doha nach Frankfurt noch ein Statement vor den Medien abgeben. Dann könnte der 61 Jahre alte Verbandschef, der erst knapp neun Monate im Amt ist, eine erste Tendenz aufzeigen, wie die Zukunft gestaltet werden soll.
Wer hat eine Perspektive?
Ein einfaches «Weiter so» wie 2018 mit dem damaligen Bundestrainer Joachim Löw und Bierhoff an der Spitze kann sich der Verband mit Blick auf die Heim-EM kaum leisten. Auch über die Spieler muss intensiv diskutiert werden. Wer hat eine Perspektive? Mit wem ist der Neubeginn sinnvoll? Der 33-jährige Müller war kurz nach dem Spiel am nächsten an einer Rücktrittserklärung. Er möchte aber erst noch mit seiner Frau reden, ebenso mit Flick.
Kapitän Manuel Neuer (36) will, «soweit ich eingeladen werde und meine Leistung zeige», weitermachen. Am tiefsten getroffen schien Joshua Kimmich, der Anführer der Generation 1995/96, der tief in seine verwundete Seele blicken ließ. «Wir fahren wieder nach Hause. Dementsprechend habe ich ein bisschen Angst davor, echt in ein Loch zu fallen», sagte der 27 Jahre alte Bayern-Profi in der Interview-Zone des Stadions mit feuchten Augen: «Für mich ist es echt, würde ich sagen, der schwierigste Tag meiner Karriere.» Noch schwieriger als in der Nacht von Kasan 2018.