Wenn der Spanier Luis Enrique an seinem Trainerdasein etwas nicht ausstehen kann, dann sind das Interviews. Der 51-Jährige würde am liebsten nur mit seinen Spielern reden.
Und er würde sich öffentlich auch niemals groß darüber auslassen, ob ihm der Außenseiter Schweiz am Freitag (18.00 Uhr) als EM-Viertelfinal-Gegner tatsächlich lieber ist als der Weltmeister Frankreich. Spaniens eigenes 5:3 (3:3, 1:1) nach Verlängerung gegen Kroatien riss aber selbst den kantigen Coach derart mit, dass er den Reportern danach sogar die Arbeit abnehmen wollte. «Ich habe eine Schlagzeile für euch», sagte Luis Enrique: «Genießt den Fußball!»
Spanien wurde in den Jahren 2008 und 2012 Europameister und 2010 sogar Weltmeister. Zwischen diesem Titel-Hattrick und dem epischen Montagabend in Kopenhagen hatte diese Fußball-Großmacht aber nie wieder zu den besten acht Teams eines bedeutenden Turniers gehört.
Ohne Real-Madrid-Profis im Viertelfinale
Luis Enrique änderte dies gleich bei seiner ersten EM – und er änderte es mit seiner eigenen, von ihm neuformierten Mannschaft. Zum spanischen Kader gehört kein einziger Profi von Real Madrid. Vier Spieler aus der Anfangsformation gegen Kroatien waren erst 24 Jahre alt oder noch deutlich jünger. Das entscheidende Tor zum 4:3 in der 100. Minute schoss mit Alvaro Morata von Juventus Turin ausgerechnet der Stürmer, der während der Vorrunde nach mehreren vergebenen Chancen noch vom eigenen Publikum angefeindet wurde.
Sein Trainer aber hielt immer an ihm fest. «Ich denke nicht, dass es irgendwo auf der Welt einen Nationaltrainer gibt, der Morata nicht wertschätzen würde», sagte er. «Wir müssen froh sein, einen Stürmer wie ihn zu haben.» Genugtuung war bei den Spaniern ein weit verbreitetes Gefühl nach diesem «Durchbruch» (Cesar Azpilicueta). Auch der 21-jährige Ferran Torres meinte: «Die Leute haben gesagt, dass Spanien keine Tore schießen kann. Darauf habe ich nie gehört.»
Keine große Zuneigung für die «Furia Roja»
Trainer oder Spieler der spanischen Nationalmannschaft zu sein, hat im Vergleich zu den meisten anderen Teams in Europa einen Nachteil: Es gibt nicht so viele Anhänger dieses Teams. Die Zuneigung vieler Spanier gilt ihrem Club oder ihrer Region. An dem Trainer der «Furia Roja» (Die rote Furie) zerren entsprechend viele Einflüsse.
Luis Enrique hat sich von Beginn an darüber hinweg gesetzt. Als Profi hat er für Real Madrid und den FC Barcelona gespielt. Als Trainer gewann er 2015 mit Barça das Triple aus Meisterschaft, Champions League und Pokal, aber das Ballbesitz-Dogma dieses Clubs war ihm immer egal. Dieser Mann sagt, was er denkt, und tut, was er will.
Er stützt Morata, den alle kritisierten. Und er lässt Pablo Sarabia spielen, der dies bei Paris Saint-Germain nur selten tut. Beide trafen am Montag genauso wie Ferran Torres, der neu ins Team kam, und Cesar Azpilicueta, der den besten Spieler der Liga-Saison verdrängt hat (Marcos Llorente). «Wir haben Spieler von unterschiedlichen Clubs und in einem unterschiedlichen Alter zusammengeholt, die alle stolz darauf sind, für Spanien zu spielen», sagte Luis Enrique. «Der Spirit in dieser Mannschaft ist fantastisch.»
Was dem Trainer dabei am wichtigsten ist: Loyalität. Das zeigt auch seine tragische Geschichte zwischen den großen Turnieren 2018 und 2021. Als Luis Enrique 2019 nach dem Krebstod seiner Tochter eine Auszeit nahm, wurde sein langjähriger Freund und Assistent Robert Moreno vorübergehend zum Chef. Er bekam selbst Ambitionen auf den Posten und Luis Enrique verzieh ihm das nach seiner Rückkehr nie.
Während dieser EM erhielt Moreno nach langem Warten wieder einen Job beim spanischen Club FC Granada, während sein früherer Boss am Freitag in St. Petersburg gegen die Schweiz die große Chance auf den Einzug in das Halbfinale hat. «Ich bin bereit für ein nächstes Spiel wie dieses», sagte Luis Enrique und meinte damit den Nervenkitzel und die dramatischen Wendungen der Kroatien-Partie. «Ich bin mir aber nicht sicher, ob meine Familie oder die Fans das Gleiche denken.»