Den silbernen Pokal ließen Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci nicht mehr aus den Augen.
Nach ihrer «unvergesslichen» Titel-Nacht in London, wie die «Gazzetta dello Sport» schrieb, gönnten sich Italiens Fußball-Europameister ein paar Stunden Schlaf in ihren Hotel-Betten und nahmen die EM-Trophäe in ihre Mitte. «Keine Angst, er wird gut schlafen. Wir passen auf ihn auf», schrieb Bonucci zu einem Foto der beiden breit grinsenden Innenverteidiger. Auch beim anschließenden Mittagessen war die Trophäe auf dem Tisch mit dabei. «Keine Sorge, wir haben ihn unter Kontrolle», kommentierte Bonucci.
Fahrt durch Rom abgesagt
Italiens Titelcoach Roberto Mancini, der seine müden Augen bei der umjubelten Ankunft in Rom am Morgen hinter einer Sonnenbrille versteckte, wollte sich zunächst auch einige Stunden Ruhe bei seiner Familie gönnen. «Wir können noch nicht begreifen, was wir geschafft haben», sagte er. Nach der kurzen Pause sollte für Italiens neue Fußball-Helden der offizielle Teil der Feierlichkeiten beginnen. «Wir haben Geschichte geschrieben, genießen wir es», forderte Chiellini. «Jetzt wollen wir mit allen Italienern feiern.» Nach den offiziellen Empfängen bei Staatspräsident Sergio Mattarella und Regierungschef Mario Draghi war zunächst eine Fahrt im offenen Bus geplant, die aber aus Sorge vor Corona-Ansteckungen wieder abgesagt wurde.
Schon im Morgengrauen hatte Hunderte glückliche Tifosi die Sieger am Flughafen und am Teamhotel in Empfang genommen. Kapitän Chiellini reckte mit einer goldenen Krone auf dem Kopf stolz die Trophäe in die Höhe. Mit einem hochdramatischen 3:2 im Elfmeterschießen gegen England hatte sich Italien wenige Stunden zuvor im Londoner Wembley-Stadion zum zweiten Mal nach 1968 zum Europameister gekrönt – und sich gleichzeitig nach der verpassten WM 2018 eindrucksvoll auf der großen Bühne zurückgemeldet. «Wir haben daran geglaubt», sagte der 34 Jahre alte Bonucci, der sein Team mit dem Treffer zum 1:1 (67. Minute) ins Elfmeterschießen gebracht hatte. «Die große Schande von 2018 ist fast vergessen», meinte der «Corriere dello Sport».
Persönliche Genugtuung für Mancini
Die wundersame Wiederauferstehung der Squadra Azzurra ist eng mit dem Namen Mancini verknüpft. «Der Trainer hat uns gezeigt, dass wir etwas Außergewöhnliches schaffen können, wenn wir daran glauben», sagte Bonucci. «Dieser Sieg ist der Beweis, dass man immer daran glauben muss. Auch wenn man ganz unten ist.» Für den Coach war der Triumph von London auch eine persönliche Genugtuung, nachdem er als Spieler unter anderem bei der WM 1990 den Titel verpasst hatte. «Wir hatten damals Pech, heute hat sich ein Kreis geschlossen», sagte der 56-Jährige. «Etwas hat das Schicksal mir wohl geschuldet.»
Nach dem Triumph weinte Mancini in den Armen von Delegations-Chef Gianluca Vialli, mit dem ihn eine lange Freundschaft mit Höhen und Tiefen verbindet. Nach der Siegerehrung ging er mit Medaille um den Hals ein paar Schritte nachdenklich über den Rasen, gemeinsam mit Torschütze Bonucci schoss er dann ein kurzes Erinnerungs-Selfie. «Mancinissimo», titelte die «Gazzetta dello Sport» am Montag.
Italien glänzt mit besonderem Teamgeist
Mancini hat eine Mannschaft geformt, die sich mit Offensivdrang und Mut, vor allem aber mit einem besonderen Teamgeist gegen alle Widerstände zum EM-Titel gekämpft hat. «Wir haben gespürt, dass etwas Magisches in der Luft lag», sagte der 36 Jahre alte Chiellini. Sein Defensivkollege Bonucci ergänzte: «Wir haben immer noch eine verrückte Lust, als Team zusammen zu sein. Das ist unglaublich.» 34 ungeschlagene Spiele in Serie und der erste große Titel für Italien seit dem WM-Triumph 2006 in Deutschland sind der Lohn.
Der Spirit der Mannschaft zeigte sich auch bei der Siegerehrung: Der erste, der seine goldene Medaille entgegennehmen durfte, war Leonardo Spinazzola. Der Linksverteidiger, der sich im Viertelfinale einen Riss der Achillessehne zugezogen hatte, war während der Party mit Gipsbein stets mittendrin – meistens huckepack bei einem seiner Teamkollegen. «Olé, olé, Spina, Spina», skandierte die Mannschaft bei der Titel-Sause vor der italienischen Fankurve im Wembley-Stadion.
Routinier-Duo als Anführer
Angeführt wurde die Mannschaft von Routinier-Duo Chiellini und Bonucci, das in der Squadra Azzurra mit dem verlorenen EM-Finale 2012 und der verpassten WM 2018 schon so manchen Rückschlag hinnehmen mussten. «Wir haben es geschafft, ein ganzes Volk glücklich zu machen, das ist legendär. Es ist das Schönste, was existiert», schwärmte Bonucci. Nur vier Gegentore ließen die Verteidiger im Turnierverlauf zu und waren damit die Basis für die Titel-Krönung.
Großen Anteil daran hatte auch Keeper Gianluigi Donnarumma, der im Elfmeterschießen sowohl im Halbfinale gegen Spanien als auch im Endspiel der gefeierte Held war und zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. «Ich war sicher, dass er einen Elfmeter halten würde. Er ist der beste Torhüter der Welt», lobte Mancini. Der Keeper selbst sagte um Worte ringend: «Wir waren spektakulär, wir waren grandios.»
Erst 22 Jahre ist Donnarumma alt und damit wie viele seiner Teamkollegen auch ein Versprechen für die Zukunft des italienischen Fußballs. Mancini hat seinen Vertrag langfristig bis 2026 verlängert, die WM im kommenden Jahr in Katar ist das nächste große Ziel der Azzurri. So weit wollte Mancini aber inmitten des großen Jubels noch gar nicht vorausblicken, erst einmal genoss der Coach den Moment: «So etwas Schönes habe ich noch nie erlebt», sagte er sichtlich gerührt. «Der Pokal ist nach 1968 zurück in Italien, das ist unglaublich.»