Thomas Müller zupfte gedankenverloren an der Gitarre. Manuel Neuer und Serge Gnabry staunten über die Fähigkeiten von Kai Havertz beim Kopfball-Tischtennis. Im fränkischen «Home Ground» herrschte bei der Fußball-Nationalmannschaft ein Hauch von Landschulheim.
«Day off», hieß es am Freitag neudeutsch und als Einstimmung auf die anstehende London-Reise in Herzogenaurach. Füße hoch und Köpfe frei, lautete die Ansage von Joachim Löw nach der emotional aufreibenden Vorrunde bei der Europameisterschaft mit der Rettung in den Achtelfinale-Kracher am Dienstag (18.00 Uhr/ARD und Magenta TV) in Wembley gegen England. Joshua Kimmich wurde aber auch schon wieder an den Kraftmaschinen im Health & Performance Center des Teamquartiers gesichtet.
Auf Löw wartet viel Arbeit
Für Löw ging an dem von ihm selbst verordneten freien Tag der Nationalspieler der Countdown für den ersten Wembley-Showdown ohnehin weiter. An Arbeit mangelt es nicht. Historisch viele Gegentore in der Gruppenphase für die skeptisch beäugte Dreierkette um Rückkehrer Mats Hummels. Leroy Sané auf Formsuche und im kritischen Fokus der Heerschar an meinungsfreudigen Ex-Größen von Stefan Effenberg bis Michael Ballack. Und die Fitness-Frage um Thomas Müller, der nach seiner Knieblessur gegen Ungarn schon wieder als Nothelfer gefordert war. Löw muss Taktik wie Personal weiter genau im Blick haben.
«Es gab Fehler, die wir gemacht haben», konstatierte der 61-Jährige in seiner Bilanz der gemischten Gefühle nach einer sehr wechselhaften Gruppenphase. Diese Fehler müssen abgestellt werden – dringend. Sonst ist Löws DFB-Ära am Dienstagabend in London zwölf Tage früher als beim geplanten Endspiel-Date im Fußball-Mekka vorbei.
Der Grundtenor muss aber positiv bleiben, weiß Löw. «Auf das Spiel gegen England können wir uns freuen», sagte er. Nach den körperlichen und geistigen Strapazen mit den drei im Vier-Tages-Rhythmus radikal verschieden gelaufenen Münchner Heimspielen gegen Frankreich (0:1), Portugal (4:2) und Ungarn (2:2) wird Löw die heiße Vorbereitung auf das K.o.-Duell erst am Samstag starten.
Drei Trainingseinheiten für das zweite Löw-Pflichtspiel gegen die historisch immer nach Fußball-Revanche sinnenden Engländer bleiben dann noch. Ob es für das Abschlusstraining schon nach London geht oder noch in Franken der Feinschliff erfolgt, ist noch unklar.
England will ersten Sieg seit 55 Jahren
Aus London fliegen derweil längst die vor jedem Deutschland-Duell unvermeidlichen verbalen Giftpfeile über den Medien-Boulevard. Tief sitzt die Demütigung, seit dem WM-Sieg vor 55 Jahren kein K.o.-Spiel mehr gegen den vierfachen Weltmeister gewonnen zu haben. «For better or Wurst», dichtete die Sun im Klischee-Modus. Vom Titel blickte Havertz mit grimmigem Gesicht. Der DFB twitterte am Freitag ein Bild mit ganz anderer Grundstimmung des Chelsea-Stars. Wohlgelaunt und augenzwinkernd und – vermutlich unbedacht – mit einer in England als Beleidigung zu verstehenden Zweifinger-Geste grüßte der jüngste deutsche EM-Torschütze aus dem Teamquartier.
Fehlverhalten der Fans soll beim Spiel am Dienstag vor dann 45.000 englischen Zuschauern unbedingt vermieden werden. Der englische Verband drohte für jegliches Benehmen im Wembley-Stadion, das «diskriminierend oder respektlos» sei, ein Stadionverbot an. Deutsche Anhänger werden in der krassen Minderheit sein. Sie können nur Karten kaufen, wenn sie einen Wohnsitz in Großbritannien haben.
Entspannung in der Team-Blase
Löw sind die Automatismen der englischen Medien und jedes Bohei abseits des Platzes erstmal egal. Sein Problem: Sportliche Verlässlichkeiten gibt es im Schlussspurt seiner Dauer-Amtszeit für die schwarz-rot-goldenen Fans nicht. Das war seit dem russischen WM-Desaster 2018 das Problem. Löw hat es entgegen der Ankündigung auch nicht geschafft, im Tiroler Turniervorlauf notwendige Automatismen zu implementieren, die auch in Stresssituationen abrufbar wären. «Es ist leider ein Auf und Ab», beschrieb Kimmich die Zick-Zack-Kurve. Die Mannschaft bleibt labil.
«Natürlich muss die Art und Weise besser werden. So wie heute, brauchen wir da nicht anzutreten», sprach Kimmich nach dem spät erzwungenen 2:2 gegen Ungarn Klartext. «Wir müssen ansprechen, wie wir uns defensiv gegen den Ball verhalten haben», legte der Bayern-Profi nach. Erstmals in der Löw-Zeit und seit der EM-Pleite 2000 kassierte Deutschland in einem großen Turnier fünf Gegentore in der Gruppenphase. «Es wird wichtig sein, auch mal ohne Gegentor vom Platz zu gehen», forderte Kimmich.
Ihre Team-Blase durften die Spieler wegen der strikten Corona-Regeln auch am freien Tag nicht verlassen. Genug Zerstreuungsoptionen gibt es aber im weitläufigen «Home Ground». Neuer zum Beispiel ist ein großer Fan des Paddle Tennis. Zur EM wurde extra ein Platz gebaut. Trotz der Freitags-Freizeit am Pool oder auf dem Mountainbike, die Partie im Wembley-Stadion ist in den Köpfen der Akteure natürlich präsent. «Ich freue mich gigantisch drauf. Viel mehr geht nicht», sagte Turnierdebütant Robin Gosens. «Es gibt schlimmere Spiele als England, in Wembley, da bin ich heiß drauf», bemerkte auch Kimmich.