Mit dem Abschied von Löw endet nach 15 Jahren die längste Strecke eines Bundestrainers. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

Tief in der Nacht kehrten Joachim Löw und seine von England entzauberten EM-Spieler noch einmal in den «Home Ground» zurück.

Abschied nehmen hieß es im fränkischen Quartier, vom Turnier und vor allem vom scheidenden Bundestrainer, für den das 0:2 im Achtelfinale im Londoner Wembleystadion das letzte Länderspiel war – weit vor dem anvisierten Endspiel am 11. Juli.

An einen ruhigen Schlaf war nicht zu denken. Am Mittmochmorgen lud der Deutsche Fußball-Bund zu einer Abschlusspressekonferenz, auf der sich Löw gemeinsam mit DFB-Direktor Oliver Bierhoff noch einmal zum frühen Turnier-Aus äußern wollte.

Vergebene Großchance raubt Müllers Schlaf

Innerlich aufgewühlt war und ist besonders auch Thomas Müller. Nach seiner vergebenen Großchance zu einem möglichen 1:1-Ausgleich in der 81. Minute meldete sich der 31 Jahre alte Angreifer am frühen Mittwochmorgen mit einer bewegenden Instagram-Botschaft zu Wort. «Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinnerung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt. Für den du als Fußballer arbeitest, trainierst und lebst», schrieb der Bayern-Profi. Direkt nach dem EM-Aus hatte er nicht gesprochen.

Der Rückkehrer, der gemeinsam mit Mats Hummels ein DFB-Comeback zum Turnier erleben durfte, leidet: «Dieser Moment, wenn du es alleine in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.o.-Spiel zurückzubringen und eine ganze Fußballnation in Ekstase zu versetzen. Diese Möglichkeit zu bekommen und sie dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh.» Im Laufe des Tages geht es für Müller und seine ebenfalls tief enttäuschten 25 Teamkollegen in den Urlaub statt weiter zum Viertelfinale nach Rom gegen den Außenseiter Ukraine.

Um kurz vor 1.00 Uhr war die DFB-Chartermaschine in Nürnberg gelandet. Löw stieg als Erster aus, in Bussen und Vans ging es danach – eskortiert von zwei Polizeiwagen – weiter ins nahe Herzogenaurach.

Ende einer Ära

Die Tragweite der Niederlage in Wembley war manchem wohl erst auf der eiligen Heimreise aus England so richtig klar geworden. Eine Ära ist zu Ende. Eine große Titelchance und ein damit verbundener ehrenvoller Abschied für Löw wurde zu früh und zu leichtfertig vertan. «So, that’s it. Die EM ist für uns vorbei. Und ich sitze hier im Bus und will es nicht wahrhaben», schrieb Verteidiger Hummels auf seinen Social-Media-Kanälen. Der Dortmunder ahnte noch in London, dass es Kritik hageln dürfte. «Es ist schon klar, dass jetzt alles niedergeredet wird.» Das Turnier müsse aber auch er «jetzt alles in allem leider als Enttäuschung abhaken».

Mit dem Abschied von Löw endet nach 15 Jahren die längste Strecke eines Bundestrainers. Sieben Turniere sind unerreicht. Auch wenn die letzten beiden im Schockzustand (WM 2018) oder einem Gefühl der großen Unzufriedenheit (EM 2021) endeten. Der 2014 noch gefeierte damalige Weltmeister-Coach Löw übergibt die DFB-Elf an seinen früheren Assistenten Hansi Flick mitten in einem nicht abgeschlossenen Transformationsprozess.

Wie geht es weiter unter Flick?

Flick wird klare und kluge Entscheidungen treffen müssen. Mit wem soll Deutschland die Rückkehr zur Fußball-Dominanz gelingen? Es wird Gespräche geben. Toni Kroos (31)? Ist nicht mehr sakrosankt. Ilkay Gündogan (30)? Fand keine Bindung zum Team. Die glücklosen Rückkehrer Hummels (32) und Thomas Müller (31)? Werden sie womöglich diesmal selbst entscheiden, bevor sie erneut auf’s Abstellgleis geschoben werden? Bei Kapitän Manuel Neuer (35) gibt es keine Anzeichen, dass er Schluss macht.

Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, der Flick gut kennt und mit ihm befreundet ist, rechnet mit einem eher sanften Umbruch. Und er ist überzeugt, dass der bisherige Bayern-Coach Müller «sicher nicht aussortieren» werde, wie Matthäus in seiner «Sport Bild»-Kolumne schrieb: «In eineinhalb Jahren startet die WM in Katar, dort muss er eine schlagkräftige Mannschaft haben. Zu dieser wird Thomas gehören. Denn Hansi will nicht alles auf ein Langzeitprojekt und die EM 2024 in Deutschland ausrichten, er will schon im Winter 2022 in Katar Erfolge feiern, Weltmeister werden.»

Im September geht aber erst einmal die WM-Qualifikation gegen Liechtenstein, Armenien und Island weiter. Deutschland muss auf dem Weg nach Katar als klarer Gruppenfavorit von Platz drei aus aufholen. Flick wird also nicht viel ausprobieren können. Muss er auch nicht. Denn das Grundgerüst mit viel Talent gerade in der Offensive (Kai Havertz, Serge Gnabry, Leroy Sané, Jamal Musiala) steht. «Wir haben eine Reihe junger Spieler, die in den nächsten zwei, drei Jahren nochmal einen großen Schritt nach vorne machen werden», sagte Löw. Reife war sein Wort in Wembley, die dem Team noch fehle.

Neuer Platzhirsche Kimmich und Goretzka?

Und die Platzhirsche hat der 61-Jährige auch schon benannt. Joshua Kimmich und Leon Goretzka müssen nun wirklich in die Führungsrolle schlüpfen. Beide seien «jetzt schon Leader in der Mannschaft, weil sie mit ihrem unbändigen Willen vorangehen», betonte Löw. «Beide sind in der Lage, die Mannschaft in den nächsten Jahren zu führen und den jungen Spielern Halt zu geben.»

Und was wird aus Löw? Von einem grundsätzlichen vorzeitigen Ruhestand wollte er nichts wissen. Aber ein gewisser Abstand ist wichtig. «Von Ruhestand habe ich noch nie gesprochen. Klar ist, dass eine Pause jetzt mal wichtig ist. Auch eine emotionale Pause», sagte er.

Zumal die Enttäuschung tief sitzt. «Vielleicht muss ich erst alles zulassen, Enttäuschungen, die Leere, die kommt. Mit Sicherheit gibt es neue Aufgaben für mich, die interessant sind», sagte Löw. Er habe «keine konkreten Pläne». Konkrete Pläne für Fußball-Deutschland braucht jetzt ein anderer, Hansi Flick.

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