Letzte Übungseinheit vor Wembley: Das DFB-Team beim Abschlusstraining in Herzogenaurach. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Federico Gambarini/dpa)

Joachim Löw referierte sachlich zum Klassiker, aber die besonderen Emotionen des anstehenden Wembley-Abends verneinte er nicht. Er dachte am Montag sogar mal «zwei Sekunden» daran, dass das EM-Achtelfinale gegen England sein letztes Spiel als Bundestrainer sein könnte.

Aber seinen Kopf beherrschen positive Gedanken und Gefühle. «Für solche Spiele ist man Trainer», sagte der 61-Jährige nach der Anreise nach London: «Die Devise kann nur lauten: Wir müssen dieses Spiel gewinnen.» Nervenstärke sei dafür ein wichtiger Faktor: «Man muss ruhig bleiben, cool bleiben. Neben einer guten Mannschaftsleistung entscheiden individuelle Dinge.»

Löws Wunsch: Kein Elfmeterschießen

Eines würde sich Löw am Dienstag (18.00 Uhr/ARD und Magenta TV) aber ersparen, wie er sagte: ein Elfmeterschießen. Trainieren ließ er es trotzdem. Den Countdown für den England-Kracher hatte er mit seiner schwarzen Trillerpfeife noch in Herzogenaurach eingeleitet. Das akustische Signal könnte ein historischer Pfiff gewesen sein, da es womöglich sein letztes Training mit den Spielern um Kapitän Manuel Neuer eröffnet hatte. Doch abdanken in Wembley gegen England, das will Löw partout nicht. Sein 198. Länderspiel als DFB-Chefcoach in Englands Fußball-Kultstätte soll nicht Endpunkt, sondern nur ein erster Zwischenstopp auf der kleinen Europatour sein.

«Wir wollen den nächsten Schritt machen», sagte Thomas Müller, der als historisch belegter England-Schreck (zwei Tore beim 4:1 im WM-Achtelfinale 2010) nach seinen Knieproblemen in die Startelf zurückkehrt. «Das Finale ist das Ziel», verkündete sogar Robin Gosens. Den Außenverteidiger hat jedoch ebenso wie Antonio Rüdiger «ein kleiner Infekt» erwischt, der beide Stammkräfte schwächt, aber wohl nicht vom Einsatz in der Anfangsformation abhalten wird.

Goretzka ist bereit

Neben Müller zeichnet sich nur eine weitere personelle Änderung ab. Leon Goretzka will nach zwei Joker-Einsätzen endlich von Anfang an loslegen. Der Münchner Mucki-Mann sei dafür bereit, sagte Löw. Zumal Ilkay Gündogan nach seiner Schädelprellung nicht komplett mit dem Team trainieren konnte. Man müsse da Vorsicht walten lassen, mahnte Löw. Endgültig wolle er über Gündogan, Rüdiger und Gosens erst im Laufe des Spieltags entscheiden, wenn er viele Einzelgespräche führt.

Eine Abkehr vom Spielsystem mit Dreierkette und drei Angreifern plant Löw nicht. Allerdings ließ er seinen Schlachtplan gegen die Three Lions streng geheim einstudieren. Deutschland gegen England, «das elektrisiert und fesselt». Aus der Mannschaft erreichen ihn positive Signale: «Ich spüre, wir sind bis in die Haarspitzen motiviert.»

Liederabend mit Symbolkraft

Symbolkraft zieht Löw aus einem Liederabend mit Rocksänger Peter Maffay, der das Team in Franken besuchte und mit einigen musikalischen Nationalspielern an den Gitarren zupfte. «Wir haben seine Songs mitgesungen, die Texte kennen ja alle», erzählte Löw. Und er wies auch auf die EM-Parallele zum Kultsong «Über sieben Brücken musst du gehen» hin: «Die EM hat sieben Spiele. Wir müssen über manche lange Brücke gehen, was beschwerlich ist.»

Im Achtelfinale ist die vierte EM-Brücke dran. Ein großer Kampf wird erwartet, womöglich ein 120-Minuten-Klassiker mit dem nervlichen Höhepunkt eines Elfmeter-Dramas Teil III, dann natürlich wieder mit einem deutschen Happy-End wie beim WM-Triumph 1990 und dem EM-Titel 1996. «Über alle Turnierspiele Deutschland gegen England spricht man noch Jahre danach», bemerkte Löw. Wembley war für ihn von Anfang an der Sehnsuchtsort auf der letzten Mission seiner 15-jährigen Ära – aber natürlich mit dem Wunschtermin beim Finale am 11. Juli.

Konstanz ist entscheidend

London – Rom – London, so soll die Reiseroute des DFB-Trosses durch Europa lauten nach den drei Gruppenspielen in München, in denen Löws 2021er-Jahrgang mal begeisterte wie beim furiosen 4:2 gegen Portugal und das Publikum mal leiden ließ wie beim 2:2 gegen Ungarn. Das mag die schwarz-rot-goldene Fan-Gemeinde irritieren und verunsichern, aber nicht Löw und auch nicht die Spieler, die vor dem Anpfiff wie die Engländer den Kniefall als Zeichen gegen Rassismus machen werden. «Seit ich in der Nationalmannschaft bin, war es nie so, dass wir in einem Turnier einen Durchmarsch hingelegt haben», erinnerte Kapitän Manuel Neuer im «Kicker»: «Es gab immer Höhen und Tiefen.»

Für Löw entscheidet in der K.o.-Phase, «wer die beste Konstanz hat, die größte Konzentration und auch den längsten Atem über das Turnier hinweg». Es verbietet sich eigentlich, über Dienstag hinauszudenken, auch wenn der Turnierpfad dazu verlockt. Die Holländer sind raus, der Weg für den Sieger des Klassikers Richtung Finale scheint geebnet.

Er hieße für Deutsche oder Engländer: Schweden oder Ukraine im Viertelfinale in Rom, danach Tschechien oder Dänemark. Auf der anderen Hälfte des Tableaus knubbeln sich dagegen Topteams wie Belgien, Italien und auch Spanien.

Kommt auf Kleinigkeiten an

Als Turnier-Veteran weiß Löw, dass es jetzt auf jede Kleinigkeit ankommt, dass er richtig aufstellen und einwechseln muss, dass jeder Fehler ein entscheidender sein kann. «Und natürlich kommt der Faktor Glück in dem einen oder anderen Spiel oder Moment dazu. Glück braucht man auch, wenn man Turniersieger werden will», bemerkte Löw.

Die stets vor und während Turnieren groß denkenden Engländer haben mit ihrer High-Speed-Offensive um den noch torlosen Starstürmer Harry Kane auch nicht wie ein kommender Europameister aufgetrumpft. Aber sie haben in engen Spielen gegen Kroatien (1:0), Schottland (0:0) und Tschechien (1:0) kein Tor hinnehmen müssen. «England hat sehr gut verteidigt, aber sie haben auch nur zwei Tore erzielt», sagte Neuer.

Die DFB-Elf hat zwar sechs erzielt, aber auch schon fünf kassiert. «Wir müssen eine stabile Defensive auf dem Platz bringen», forderte darum Neuer. Der Welttorhüter warnte explizit vor Goalgetter Kane: «Es ist immer ein gefährliches Zeichen, wenn ein Stürmer auf ein Tor warte.» Müller wiederum wünscht sich, dass der Faktor Neuer nun zum Tragen kommen kann. Wenn schon, müsse man «dem Gegner eine Torchance geben, bei der sich der Manu auszeichnen kann», sagte er.

Auf Neuer, Müller und Co. kommt atmosphärisch ein lange nicht mehr erlebtes Auswärtsspiel zu. 45.000 Zuschauer dürfen ins Stadion. Wegen der Corona-Reiserestriktionen aufgrund der Delta-Variante werden aber nur ganz wenige deutsche Anhänger im weiten Rund sein. «Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass Stille im Stadion ist», sagte Löw. Vor allem nach dem Schlusspfiff, der für ihn noch keiner als Bundestrainer sein soll.

Die voraussichtlichen Aufstellungen:

ENGLAND: 1 Pickford – 2 Walker, 5 Stones, 6 Maguire, 3 Shaw – 14 Phillips, 8 Henderson, 7 Grealish – 25 Saka, 9 Kane, 10 Sterling

DEUTSCHLAND: 1 Neuer – 4 Ginter, 5 Hummels, 2 Rüdiger – 6 Kimmich, 18 Goretzka, 8 Kroos, 20 Gosens – 7 Havertz, 10 Gnabry, 25 Müller

Schiedsrichter: Danny Makkelie (Niederlande)

Von Klaus Bergmann, Arne Richter und Jens Mende, dpa
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