Zahlreiche Zuschauer verfolgten die Ankunft im EM-Quartier im «Home Ground» in Herzogenaurach. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

Joachim Löw stieg in Nürnberg bei leichtem Regen als Erster aus dem DFB-Charterflieger, auf einen schützenden Schirm verzichtete er.

Eine knappe Stunde später fuhr der offizielle grüne Teambus mit der Aufschrift «Germany» mit den 26 deutschen Spielern ins EM-Basisquartier in Herzogenaurach ein. Eine Reiterstaffel der Polizei mit vier Pferden sowie weitere Ordnungskräfte sorgten für Ordnung vor dem Tor, rund 100 Kiebitze wollten einen Blick auf die Stars um Nationalmannschafts-Rückkehrer Thomas Müller erhaschen. Die Kinder bekamen vom Sicherheitspersonal DFB-Aufkleber geschenkt.

EM-Feinschliff im «Home Ground»

Im fränkischen «Home Ground» will der Bundestrainer seinem Team vor dem schweren Start gegen Frankreich den Feinschliff geben. Mahnend und warnend schaltete der voll fokussierte Chefcoach sofort in den Turnier-Modus um. «Wir brauchen eine Topleistung, wenn wir eine Chance haben wollen», sagte Löw in der ARD ebenso energisch wie eindringlich zum Hammerauftakt gegen den Fußball-Weltmeister.

Das heißt noch einmal: Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Schon vor dem Einzug in die fränkische Wohlfühloase beim DFB-Partner Adidas hatte ein auf seiner Bundestrainer-Zielgeraden nochmal extrem ehrgeiziger Löw den höchsten Testspielsieg seiner Amtszeit im Statistik-Ordner abgelegt. Nach dem munteren 7:1-Torfest im Test gegen Sparringspartner Lettland bestand auch auf dem kurzen Flug von Düsseldorf nach Nürnberg keine Gefahr, dass ausgerechnet Löw die Bodenhaftung verlieren könnte.

Die gelungene Generalprobe mit der möglichen Geburtsstunde der auf den letzten Drücker von ihm gefundenen und mutig komponierten EM-Elf werde weder ihn noch seine Spieler «dazu bewegen, dass wir glauben, es ist alle Arbeit getan», sagte Löw deutlich. Nein! Nein! Nein!

Klare Löw-Ansage

Löws klare Ansage für die Tage im abgeschiedenen und mit grünen Tarnnetzen geschützten «Home Ground» in Herzogenaurach bis zum ersten Turnier-Ernstfall am 15. Juni vor 14.000 nun in EM-Stimmung versetzten Fans in der Münchner Arena lautete vielmehr: «Jetzt fängt die Arbeit nochmal richtig an!» Lettland ist nicht Frankreich. Und ein 7:1 gegen Lettland kann beileibe keine Titelbotschaft sein wie das märchenhafte 7:1 im Jahrhundertspiel gegen Brasilien 2014 in Belo Horizonte, beim damals vorletzten Schritt zum WM-Triumph. Auch wenn Teamsprecher Thomas Müller nach seinem Tor-Comeback gegen unbedarfte Letten launig bemerkte: «Wir haben uns bis Mitte Juli den Kalender freigehalten.»

So eifrig die 1000 Zuschauer das Treffer-Festival von Rückkehrer Müller, Tor-Debütant Robin Gosens, Ilkay Gündogan, Serge Gnabry, den Jokern Timo Werner und Leroy Sané sowie Lettlands Torhüter Roberts Ozols beklatschten, so eifrig sezierte Löw die kleinen Kritikpunkte.

Er sieht noch Potenzial in der «Feinabstimmung». «Tempo» und «Intensität» müssten 90 Minuten hochgehalten werden. Und das zwar schöne, aber auch vermeidbare Gegentor nach einem Einwurf «störte» und «ärgerte» Löw mindestens so sehr wie Torhüter Manuel Neuer, der in seinem 100. Länderspiel unbedingt zu Null spielen wollte. «Das 7:1 gegen Brasilien war ein bisschen schöner», bemerkte der Kapitän.

«Wachsam sein»

«Wachsam sein» von Minute eins bis 90, so lautet Löws Forderung: «Unaufmerksamkeiten gegen starke Mannschaften werden bestraft.» Der ultimative Test für die Widerstandsfähigkeit im EM-System mit der Abwehr-Dreierkette kommt erst gegen Frankreichs weltmeisterliche Équipe um Kylian Mbappé, Paul Pogba, Antoine Griezmann und und und.

Darum mochte Löw auch «nicht bestätigen», dass er seine EM-Elf gefunden habe. «Natürlich werden die meisten Spieler auf dem Platz stehen», sagte der 61-Jährige zwar, betonte aber zugleich: «Es ist wichtig, dass der Konkurrenzkampf oben bleibt.» In der Offensive drängte sich Kai Havertz mit starken 45 Minuten als dritter Mann neben dem gesetzten Bayern-Duo Müller/Gnabry auf. Löw verortet Havertz nach dem Siegtor für Chelsea im Champions-League-Finale auf einer «Euphoriewelle». Dieses Momentum will er nutzen. Sané und Werner sollen Druck machen, müssen sich aber zunächst gedulden.

Auch hinten steht die Kette mit Matthias Ginter, Mats Hummels und Antonio Rüdiger. Löws einzige große Personalfrage lautet: Wohin mit Joshua Kimmich, den er gegen die Letten nach rechts schob? Taugen der von Corona genesene Toni Kroos und Ilkay Gündogan im Zentrum wirklich zu Wellenbrechern gegen die geballte Mittelfeld-Power der Franzosen?

Löw-Déjà-vu bei Kimmich

Löw steht – sieben Jahre nach dem WM-Triumph – bei Kimmich vor einem Déjà-vu. Er kennt das, es ist die einst ewige Lahm-Frage. «Jo hat das Format Philipp Lahm», sagte Löw über Kimmich. Der Münchner ist sein neuer Alleskönner. Kimmich ist Löws bester Sechser, aber im 3-4-3-System als Pendant zum durchstartenden Turnierneuling Gosens links zugleich die Idealbesetzung auf der rechten Außenbahn.

Was nun? Löws Lösung könnte entscheidend sein für den Ausgang seiner letzten Turniermission, der er von Tag zu Tag mit mehr Zuversicht und Vorfreude entgegenblickt. «Wenn wir die Dinge, die uns stark machen, richtig einsetzen und konsequent machen, gehen wir mit Überzeugung ins Spiel gegen Frankreich», sagte er. Zumal er «einen guten Spirit» in der Mannschaft spürt, anders als vor der desaströsen WM 2018, als «eine Schwere auf der Stimmung» gelastet habe, die er drei Jahre später ehrlich rückblickend als «lähmende Situation» beschrieb.

Jetzt scheint der Mix der Generationen, die Mischung aus alten WM-Helden (Neuer, Kroos), hilfreichen Rückkehrern (Müller, Hummels) und beflügelnden Turnierneulingen (Gnabry, Gosens, Havertz) zu passen. «Wir vertrauen einander und freuen uns auf das Turnier, auch wenn es nicht leicht wird», sagte Neuer. Der Teamsenior kennt sich aus, der 35-Jährige sagt vor seinem sechsten Turnier als Nummer 1 solche Sätze nicht einfach dahin. «Ich habe ein gutes Gefühl», sagte Neuer vor dem Start gegen Frankreich. Löw denkt ähnlich – aber er wählt lieber andere Sätze: «Wir haben immer noch Luft nach oben.»

Von Klaus Bergmann und Jens Mende, dpa
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