Zum Haare raufen: Thomas Müller trauert seiner vergebenen Großchance gegen England nach. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Justin Tallis/Pool AFP/dpa)

Da war sogar bei «Radio Müller» erst einmal stundenlang Sendepause. Thomas Müller litt besonders intensiv nach dem EM-Aus der Fußball-Nationalmannschaft in der Kultstätte Wembley. Und dieses Leiden wird der 31-Jährige auch mit in den Urlaub nehmen.

In der unruhigen Nacht nach dem 0:2 im Achtelfinale gegen England hatte der Münchner Leitwolf immer und immer wieder diese eine Szene aus der 81. Spielminute vor Augen. Alleine lief er nach dem öffnenden Pass von Kai Havertz auf das englische Tor zu. Es war der Augenblick, in dem Müller dem Turnierverlauf und seinem eigenen DFB-Comeback mit dem Tor zum 1:1 nochmal eine ganz neue Wendung hätte geben können.

«Da war er, dieser eine Moment»

«Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinnerung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt. Für den du als Fußballer arbeitest, trainierst und lebst», schrieb Müller nach der benötigten Sendepause am Morgen nach seinem 106. Länderspiel in den sozialen Netzwerken. Müller ordnete die Dimension seines Fehlschusses klar ein: «Dieser Moment, wenn du es alleine in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.o.-Spiel zurückzubringen und eine ganze Fußballnation in Ekstase zu versetzen. Diese Möglichkeit zu bekommen und sie dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh.»

Womöglich wäre diese von Joachim Löw erst kurz vor dem Turnier zusammengeschusterte deutsche Mannschaft um die auf den letzten Drücker zurückgeholten Routiniers Müller und Mats Hummels auch nach einem 1:1-Ausgleich ausgeschieden. Aber ein Müller-Tor hätte in dem Moment eben auch der Türöffner zum Viertelfinale werden können.

Von einer «Riesen-Riesen-Chance» sprach Kumpel Hummels. Und Bastian Schweinsteiger litt als ARD-Experte auch live mit seinem langjährigen Bayern-Spezl. «Da müssen wir nicht drüber reden. Thomas muss das Tor machen. So was trifft ihn sehr. Das wird ihn beschäftigen die nächsten Wochen», sagte Müllers Weltmeister-Kollege von 2014.

Frust über sich selbst

Aus 16 Metern schoss Müller knapp links vorbei. Den Ball traf er nicht optimal. Der Mann, der 39 oft wichtige Tore für Deutschland erzielte, sank auf die Knie, fasste sich entsetzt an den Kopf. Bei seiner Auswechslung wenig später schimpfte Müller ohne Ende – vor allem wohl über sich selbst. Er konnte den persönlichen EM-Fluch nicht abschütteln. 2012, 2016, 2021, drei EM-Turniere, null Tore. Bei drei Weltmeisterschaften müllerte es dagegen bei zehn Treffern.

Sein Versagen in einer Schlüsselszene schmerzte ihn für «meine Mitspieler und unseren Trainer, die mir allesamt das Vertrauen geschenkt haben, genau dann zur Stelle zu sein. Aber vor allem schmerzt es wegen all der Deutschland-Fans da draußen, die während dieser EM trotz schwieriger Vorzeichen zu uns gehalten und uns unterstützt haben.» Müller bedankte sich für die Unterstützung.

Keine direkten Vorwürfe

Direkte Vorwürfe erntete er nicht. Auch mit dem Bundestrainer tauschte er sich nachts im Franken-Camp nochmal kurz aus über den Fehlschuss. «Thomas hat das in seiner ureigenen humorvollen Art kommentiert. Er hat zu mir gesagt: ‚Trainer, wenn ich die Chance gemacht hätte, hätte uns das sicherlich nicht geschadet’», erzählte Löw: «Und ich habe gesagt: Stimmt! Diese Chance hätte uns zurück ins Spiel gebracht.» Löw ist überzeugt: «Thomas, denke ich, kann auch mit so einer Situation umgehen. Der wird das auch gut verarbeiten.»

Müller und Hummels: Ihre Rückholaktion, mit der sich Löw nach der DFB-Ausmusterung im Frühjahr 2019 erst lange schwer tat, um sie dann doch viel zu spät auszuführen, sollte zu anderen Resultaten führen.

Hummels startete mit einem bitteren Eigentor gegen Frankreich und verantwortete nach seiner persönlich besten Turnierleistung gegen die Engländer in seiner Funktion als Abwehrchef doch insgesamt sieben Gegentreffer in vier Partien. «Das Turnier muss ich jetzt alles in allem leider als Enttäuschung abhaken», sagte der Dortmunder.

Was passiert mit Müller und Hummels?

Der Turnier-K.o. traf auch den 32-Jährigen hart. Hummels hatte in den knapp fünf Wochen des Zusammenseins einen «super Spirit» im Team gespürt. Ein «super Teamgefüge» sei in der kurzen Zeit entstanden. «Es ist uns schon klar, dass jetzt alles niedergeredet wird», motzte der Abwehrspieler nach seinem 76. Einsatz im Nationaltrikot.

War’s das jetzt schon wieder mit dem DFB-Comeback von Müller und Hummels? Beide vermieden spontane Festlegungen. Gedanken über die Zukunft will sich Hummels «irgendwann in ein paar Wochen mal machen». Es könnte auch von Gesprächen mit dem neuen Bundestrainer Hansi Flick abhängen. Für den Löw-Nachfolger war insbesondere Leitwolf Müller ein absoluter Schlüsselspieler und Erfolgsfaktor in seiner kurzen, aber so erfolgreichen Cheftrainer-Ära beim FC Bayern München.

Müller war ins Turnier gegangen mit «nullkommanull» Gedanken an die Zeit danach. Und jetzt muss er erstmal diese bittere Szene mit dem Fehlschuss in Wembley verarbeiten und aus dem Kopf kriegen.

Von Klaus Bergmann und Arne Richter, dpa
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