Bundestrainer Julian Nagelsmann (M) lässt sich nach Neuers Fehler im Test gegen Griechenland auf keine Torwart-Diskussion ein. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

Mit seinem fulminanten Premieren-Tor im Nationaltrikot rettete Pascal Groß den deutschen EM-Spielern die Stimmung am Familien-Wochenende, in das Julian Nagelsmann sie direkt nach der Turnier-Generalprobe mit spätem Happy End entließ. Der Bundestrainer nutzte das Tor in vorletzter Minute zum 2:1 (0:1) gegen Griechenland aber auch für sich, um im doch noch völlig losgelösten Siegjubel der Fans im Borussia-Park alle Zweifel an dem zum Risiko gewordenen Torwart Manuel Neuer und dem lange spannungslosen Auftritt sieben Tage vor dem Eröffnungsspiel in München gegen Schottland zu übertönen.

«Ich glaube extrem an die Mannschaft», verkündete der 36-Jährige und entschwebte verbal in Turnierspähren, die nach den finalen 90 Testminuten eher utopisch klangen. «Wir können Großes erreichen. Wir werden alles Menschenmögliche tun, um den Titel zu gewinnen.» War es nur zu menschlich, dass sich sieben Tage vorm Turnier kein Stammspieler mehr verletzen wollte? Dass auch darum völlig die EM-Spannung fehlte in einer ersten Hälfte, die Anführer Toni Kroos «einfach zu fehlerhaft» und «unrund» nannte? «Job erfüllt», befand Nagelsmann mit dem exklusiven Blick aufs Resultat: «Die Reaktion in der zweiten Halbzeit fand ich gut.» 

«Späte Tore sind cool für die Psyche»

Nach dem Schlusspfiff wartete schon der Fahrservice am Stadion, um etwa Kroos flott Richtung Flughafen zu befördern für den Wochenend-Trip zu Frau und Kindern nach Madrid. Erst am Montagmorgen erwartet Nagelsmann seine EM-Akteure – ohne den aus dem Kader gestrichenen Torwart Alexander Nübel – zum EM-Countdown in Herzogenaurach zurück.

«Am Ende war der Sieg schon gut für die Gesamtstimmung», sagte Nagelsmann. «Und späte Tore sind ganz cool für die Psyche einer Mannschaft», bemerkte er mit dem Verweis auf Meister und Pokalsieger Bayer Leverkusen, der mit dieser mentalen Stärke gefühlt «15 plus x Mal» enge Spiele noch gezogen habe. «Wenn wir jetzt dreimal 2:1 spielen würden in der Vorrunde, dann würde ich das gerne unterschreiben», sagte der Bundestrainer mit Blick auf die Gruppenspiele gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz. Ende gut, alles gut?

Neuers Wandlung zum Risiko-Faktor

«Wir wussten, dass wir nicht so gut waren, wie wir im März gemacht wurden», sagte Kroos zum Leistungsabfall im Vergleich zu den bestaunten Siegen gegen Frankreich (2:0) und Holland (2:1). Nagelsmann aber sieht sein Team nach drei Siegen und einem 0:0 gegen die Ukraine «gefestigter» als im vergangenen November nach den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich, die ihn zum radikalen Strategiewechsel und Kaderumbau animiert hatten. Sein danach definiertes Rollenspiel mit Kroos als Schlüsselfigur zieht er nun konsequent durch.

Das Paradebeispiel ist Neuer. Der Bayern-Torwart, der früher ein Garant für Siege und den WM-Titel 2014 war, ist mit 38 Jahren plötzlich ein Torwart, der Spiele verlieren kann. Der zwar weiter mit Weltklasseparaden begeistert, aber plötzlich mit krassen Fehlern eine Torwart-Diskussion befeuert, die Nagelsmann am Freitagabend resolut abzuwürgen versuchte. Er werde auch nach Neuers Torgeschenk an Giorgos Masouras «an der Torwartfrage nicht herumdoktern». Neuer steht bei der EM im Tor. Ende der Durchsage.

Schwung von der Bank mit Sané, Groß und Co.

Kurs halten ist das Programm für die letzten Trainingstage bis zum EM-Ernstfall. Die Startelf wird Nagelsmann kaum ändern. «Es wird ungefähr so aussehen wie heute», kündigte er vage an. Von 13 potenziellen Akteuren für die zehn Feldspielerplätze sprach der Bundestrainer.

Zu dieser Gruppe zählt Nagelsmann auch Leroy Sané, der sich bei seinem 45-Minuten-Comeback nach drei Länderspielen Sperre und seiner kniffligen Schambein-Problematik empfehlen konnte. Von der Bank kamen belebende Impulse. Sané legte Kai Havertz das 1:1 auf. Benjamin Henrichs schoss an die Latte. Nico Schlotterbeck hatte eine Rettungsaktion in der Abwehr. Und Groß erzielte das Siegtor. «Ich habe mich unglaublich gefreut», sagte er.

«Major Tom» und die Sehnsucht der Fans

Die Torhymne «Major Tom» schallte danach durchs Stadion – und die Zuschauer gingen doch noch glücklich nach Hause. «Wir brauchen die Unterstützung der Fans, das wird uns pushen», sagte Kapitän Ilkay Gündogan. Im ausverkauften Borussia-Park zeigte sich erneut, wie sehr sie ihr Team unterstützen und feiern wollen, wie sehr sie sich nach drei Murks-Turnieren nach Erfolgen und einer kollektiven Partystimmung sehnen. 

Das Tor von Groß verhinderte zunächst einen krassen Stimmungsdämpfer. Aber die Kraft entscheidender Turniertreffer ist bekannt. 2006 wirkte das Tor von Oliver Neuville in der Nachspielzeit zum 1:0 im zweiten WM-Gruppenspiel gegen Polen im Dortmunder Stadion wie ein Urknall. Es war die Initialzündung für das legendäre Fußball-Sommermärchen.

Von Klaus Bergmann, Arne Richter und Holger Schmidt, dpa
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