Bundestrainer Julian Nagelsmann beim Abschlusstraining in Herzogenaurach. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Federico Gambarini/dpa)

Jetzt darf es keine EM-Zweifel mehr geben. Julian Nagelsmann schlenderte über den Trainingsplatz, stützte sich auf die Werbebande mit dem dicken Schriftzug EURO 2024 und schaute äußerlich erstaunlich gelassen Torwart Manuel Neuer bei den letzten Übungen zu.

Toni Kroos lief derweil als einziger mit einem Ball lässig am Fuß in der Trainingsgruppe der Fußball-Nationalmannschaft vorneweg und chippte die Kugel Richtung Tor. Da geht es lang zum großen Titeltraum, das war seine EM-Botschaft.

«Natürlich will man, dass es losgeht. Das ganze Land fiebert. Ich glaube, dass wir sehr gut vorbereitet sein werden», sagte der Titelsammler von Real Madrid, auf dem nun riesige deutsche Fußball-Hoffnungen ruhen. Große Spannung? Ja. Große Anspannung? Ganz sicher auch. Im Sonnenschein von Herzogenaurach sollte der massive Druck vor dem EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland aber bloß keine Überhand gewinnen.

Dass am Freitag (21.00 Uhr/ZDF/Magenta TV) in München 18 Jahre nach der rauschenden Heim-WM gegen den unbequemen Kontrahenten nicht mehr oder weniger als der Zündfunke für den Traum vom Sommermärchen 2.0 auf dem Spiel steht, war Bundestrainer Nagelsmann durchaus klar.

Energy-Drink als Glücksbringer

Mit dem richtigen Energy-Drink, dem ihn sein Assistent mit dem passenden Namen Benjamin Glück aus Aberglaube aussucht, und mit dem bestmöglichen Bauchgefühl will Nagelsmann am Freitag das Stadion betreten. «In allererster Linie ist jetzt große Vorfreude, weil es ein riesiges Event ist. Wahrscheinlich wird nicht nur Europa, sondern die ganze Welt draufschauen», sagte der mit 36 Jahren jüngste deutsche Turnier-Bundestrainer.

Groß, größer, am größten: Das ist Nagelsmanns Kategorie, in der er am liebsten denkt. Die EM-Bühne mit gut 66 000 Fans in der Münchner EM-Arena und mehreren hundert Millionen TV-Zuschauern in aller Welt sollen sehen, dass drei deutsche Turnier-Blamagen Geschichte sind. Dass alle wabernden Zweifel an der Titelreife der von ihm neu strukturierten Fußball-Nationalmannschaft weggewischt werden können.

«Wir wollen wie jede Mannschaft das Maximale erreichen und glauben, dass es möglich ist.» Diese Ansage von Verbandsboss Bernd Neuendorf hat Nagelsmann sich längst zu eigen gemacht: «Wir wollen das Ding gewinnen.»

März-Momente als Mutmacher

Riesige Mutmacher im März gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1), aber auch wieder irritierende 45 Minuten in einer schöngeredeten Generalprobe gegen Griechenland (2:1) – in diesem Spannungsfeld tritt die DFB-Elf zur ersten Heim-EM seit 36 Jahren an.

«Wenn wir einen guten Start ins Turnier finden, dann bringen wir das Momentum auf unsere Seite. Dann werden die Menschen auch viel positiv emotionaler sein und uns noch weiter tragen können», sagte Ilkay Gündogan. Die Fans müssen aber erst mal gewonnen werden. «Was ich mir wünschen würde, ist ein kleiner Vertrauensvorschuss für das Turnier», sagte der Barcelona-Profi vor seiner Turnierpremiere als DFB-Kapitän.

«Als Mannschaft sind wir erst mal in der Schuld, eine Top-Leistung zu bringen», sagte Nagelsmann. Mit seiner konsequenten Personalpolitik ist er ins Risiko gegangen. Der Konkurrenzkampf wurde weitgehend für klare Hierarchien und Handlungssicherheit geopfert. Jetzt muss sich zeigen, ob die Stammelf bereit ist. Selten vor einem Turnier gab es so wenige Spekulationen über die richtige Anfangsformation. Nagelsmann hat sie einfach vorab festgelegt und ist bis auf die Patzer von Stammtorwart Manuel Neuer damit auch gut durch die Vorbereitung in Blankenhain und Herzogenaurach gekommen.

Startelf fix

Neuer – Kimmich, Rüdiger, Tah, Mittelstädt – Andrich, Kroos – Musiala, Gündogan, Wirtz – Havertz. So wird sich die DFB-Elf formieren, wenn bis zum Anpfiff von Schiedsrichter Clément Turpin (Frankreich) nichts mehr passiert. «Am Ende brauchen wir genügend Spieler, die funktionieren, um erfolgreich zu sein. Es wird schwierige Situationen geben. Mit Sicherheit auch gegen Schottland. Da müssen wir da sein», forderte Kroos. Dass diese Elf mit 28,7 Jahren die älteste DFB-Startelf seit dem Turnier-Desaster bei der EM 2000 wäre – geschenkt.

Das Comeback von Kroos war ein Geniestreich von Nagelsmann. Der 34-Jährige will seine Karriere mit dem noch fehlenden EM-Titel am 14. Juli im Berliner Olympiastadion beenden. Dafür bringt er alle seine Qualitäten ein. Ruhe am Ball. Souveränität auf dem Feld. Also das, was der Nationalmannschaft in vielen konfusen Momenten in den vergangenen Jahren fehlte. Frisch sind die Erinnerungen an das Chaos auf und abseits des Platzes beim frühen WM-Scheitern in Katar 2022.

Kimmich will Makel wegwischen

Wie kaum ein anderer musste Joshua Kimmich als Symbol für die Fehlzündungen bei den drei letzten Turnieren herhalten. Alle Auftaktspiele gingen bei der WM 2018, der EM 2021 und der WM 2022 verloren. Die Negativspirale ließ sich nicht mehr stoppen. «Wenn wir das erste Spiel gewinnen, das sorgt dann schon für eine sehr gute Stimmung. Wenn du verlierst oder nicht gewinnst, ist der Druck gleich wieder da. Wir werden alles dafür tun, zu gewinnen», sagte der 29-Jährige, der seine Rückversetzung zum rechten Außenverteidiger auch für seinen Titeltraum akzeptiert hat.

Schottland mit riesiger Fan-Gemeinde

Schottland wird dabei von allen ernst genommen. Die 100 000 in der bayerischen Hauptstadt erwarteten Gäste-Fans sind ein Folklore-Faktor. Mehrfach wies Nagelsmann darauf hin, dass die Bravehearts längst nicht mehr jene nur rennende und kämpfende Fußball-Horde sind. Kroos holte sich auch Rat bei seinen Kollegen in Madrid ein. Auf dem Weg zur EM hatte Spanien in Schottland verloren. Physisch stark, logisch, aber auch sehr gefährlich im Umschaltspiel sei das Team um den Liverpooler Andrew Robertson. Sprich: «Die Kategorie, gegen die sich die Nationalmannschaft schwergetan hat in den letzten Jahren», sagte Kroos.

Ein Remis oder gar eine Niederlage würden den Druck vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Ungarn massiv erhöhen. Das Schreckgespenst des Vorrunden-Aus wäre schnell wieder da. Bei diesen Gedanken springt Rudi Völler mit all seiner Erfahrung ein. Positiv denken, nicht überdrehen. Mit dieser Einstellung will der DFB-Sportdirektor in seine fünfte EM als Spieler (1984, 1988, 1992), DFB-Teamchef (2004) und nun als Funktionär gehen. «Wir brauchen nicht auszuflippen, aber ein gutes Maß an Optimismus sollte man schon haben», sagte Völler.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa
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