Mit seiner roten Mütze sah Manuel Neuer aus wie der Nikolaus. In seiner großen Sporttasche mit der Nummer eins waren bei der traurigen Rückkehr aus Katar am Münchner Flughafen aber weder der goldene WM-Pokal noch sonstige Geschenke und Kostbarkeiten, sondern – sinnbildlich gesprochen – viele Probleme und Fragezeichen. Und Thomas Müller rief den Wartenden noch zu: «Geht mir medium».
Das dürfte in Anbetracht der allgemeinen Stimmungslage im deutschen Fußball nach dem WM-K.o. der Nationalmannschaft noch übertrieben positiv ausgedrückt gewesen sein. Und auch wenn der Fokus gerade auf die Zukunft von Bundestrainer Hansi Flick und den massiv gescholtenen DFB-Direktor Oliver Bierhoff gerichtet ist, geht es auch um die Frage, mit welchen Spielern die Zukunft angegangen werden kann. In 18 Monaten ist die Heim-EM.
Nach der frühzeitigen Rückkehr des Hausherren aus Katar stehen bei den Müllers wichtige Adventsgespräche an. Thomas Müller wird seine Frau Lisa bitten, genau zuzuhören und ihre Meinung zu sagen. Es geht um eine Angelegenheit von großer Fußball-Bedeutung. Im Bann der Emotionen hatte Müller nach dem nutzlosen 4:2 gegen Costa Rica eine Art Abschiedsrede an die Fans gehalten. «Ich habe es mit Liebe getan. Da könnt ihr euch sicher sein. Und alles Weitere muss ich erst mal sehen», sagte Müller im Stadion von Al-Chaur.
Müller-Rückzug wäre keine Überraschung
Teamsenior Neuer würde schon gerne weitermachen im Nationaltrikot, wenn er denn «eingeladen wird und die Leistung stimmt», wie er anmerkte. Der zum WM-Rekordtorwart aufgestiegene Bayern-Profi wäre bei der Heim-EM im Sommer 2024 dann 38 Jahre alt. Ob Neuer nach mehr als 13 Jahren und 117 Länderspielen weitermacht, hängt sicherlich auch davon ab, ob Flick nach dem angekündigten Krisenmeeting mit DFB-Chef Neuendorf überhaupt weitermachen darf.
Ein neuer Bundestrainer könnte auf einen konsequenten Neuanfang setzen. Flick setzte in den drei Gruppenspielen gegen Japan (1:2), Spanien (1:1) und Costa Rica insgesamt 20 der 26 verfügbaren Kaderspieler ein. An Baustellen mangelt es dem DFB-Chefcoach, ob er Flick heißt oder Mr. X, jedenfalls nicht, wenn die ersten Testspiele Richtung Heimturnier im März anstehen (Gegner und Spielorte offen). Das verdeutlicht eine Übersicht über einzelne Mannschaftsteile und Personalien.
Torhüter:
Ein Ende der DFB-Karriere von Neuer (36) wäre eine Zäsur. Aber die Nachfolger stehen bereit. Marc-André ter Stegen (30) und Kevin Trapp (32) haben internationales Format. Ter Stegen könnte aus der ewigen Kronprinzenrolle schlüpfen. Bei der Heim-EM wäre er 32 – nur ein Jahr älter als Oliver Kahn bei seinem Turnierdebüt 2000. Das Problem: Durch Neuers lange Vormachtstellung gibt es keinen Schlussmann unter 30, der schon ein Länderspiel bestritten hätte. Alexander Nübel (26) wartet in Monaco auf seine Chance.
Außenverteidiger:
Die Problemzone. Auf rechts setzte Flick in Katar in drei Spielen vier verschiedene Spieler ein. Keine Lösung war perfekt. Links spielte David Raum (24) fast 270 Minuten durch – auch aus Mangel an Alternativen. Auf höchsten Niveau ist Deutschland auf beiden Seiten kaum konkurrenzfähig. Das sprach auch Flick nach dem WM-Aus klar an.
Innenverteidiger:
Antonio Rüdiger (29) und Niklas Süle (27) waren von ihrer Bestform zu weit entfernt. Sie werden aber erste Wahl bleiben. Der zuverlässige Freiburger Matthias Ginter, mit 28 jung genug, hat bei seiner dritten WM erstmals ganz kurz gespielt. Flick setzt aber nicht wirklich auf ihn. Nico Schlotterbeck (23) braucht noch Lehrjahre in Dortmund. In Armel Bella Kotchap (20) war ein vielversprechendes Talent als WM-Lehrling dabei. Die Rufe nach Mats Hummels (32) dürften trotz des Scheiterns nun wohl Fußball-Historie sein.
Mittelfeld defensiv:
Flick konnte sich zwischen Joshua Kimmich (27), Leon Goretzka (27) und Ilkay Gündogan (32) nicht auf zwei Kandidaten festlegen. Ein WM-Konflikt, der sich nachträglich lösen könnte, sollte Gündogan seine DFB-Karriere ungekrönt beenden. Kimmich und Goretzka müssen als Anführer des glücklosen Jahrgangs 95/96 jetzt noch mehr Verantwortung übernehmen. Viele Turnierchancen hat das Bayern-Duo nicht mehr.
Mittelfeld offensiv:
Das Eldorado – und in Jamal Musiala (19) ein Dribbelkönig mit Weltstarpotenzial. Zudem kommt in Leverkusens Florian Wirtz (19) ein ähnlicher Spielertyp nach einer schweren Knieverletzung zurück. Leroy Sané (26) und Serge Gnabry (27) gehören zur geforderten Jahrgangsstufe von Kimmich und Goretzka. Havertz ist mit 23 Jahren eine junge und doch schon erfahrene Option. Der pfeilschnelle Karim Adeyemi (20) durfte in Katar ein bisschen zuschauen.
Mittelstürmer:
Es gibt sie noch, die Nummer 9. Der Name lautet Niclas Füllkrug (29). Der Bremer hat Chancen auf eine Fortsetzung seiner DFB-Karriere als Spätberufener. Und WM-Zuschauer Timo Werner (26) wird nach seiner Knöchelblessur auch wieder zurückkommen. Flick sprach nach dem Vorrunden-Aus von fehlenden Stoßstürmern in Deutschland. Immerhin Youssoufa Moukoko (18) ist eine Verheißung.