Thomas Doll wirkt gelassener als früher, was wohl auch an den äußeren Umständen liegen mag. «Es bringt nichts, sich aufzuregen, weil es nicht anders geht», sagt der frühere Bundesliga-Trainer, «mit den ganzen Mopeds und so.»
In Indonesien, wo Doll mit den Erstliga-Fußballern des Hauptstadt-Clubs Persija Jakarta um den Titel spielt, sind die Straßen oft verstopft, die Wege lang. Bis zu eineinhalb Stunden braucht der 56-Jährige, wenn er von seiner Wohnung im noblen Süden Jakartas zu den Trainingsplätzen des Clubs will. Das ist der Alltag. Geprägt ist Dolls Zeit in Indonesien aber vom Ausnahmezustand. «In den sieben Monaten, seit ich hier bin, ist so viel passiert, das erleben andere ein ganzes Leben lang nicht», sagt Persijas Trainer.
Die Stadiontragödie nach dem Duell zweier Liga-Rivalen, bei der im vergangenen Oktober 135 Menschen ums Leben kamen, hat auch bei Doll Spuren hinterlassen. «Da ist alles falsch gelaufen, was nur falsch laufen konnte. Und am Ende steht die zweitschlimmste Tragödie, die es im Fußball je gab», sagt er. «Alle waren richtig geschockt in Indonesien.» Im November folgte die nächste Katastrophe, ein Erdbeben, über 300 Menschen starben. Die Nachrichten im Dezember: Explosion einer Kohlemine, Vulkanausbruch, Überschwemmungen, Bombenanschlag.
Ausnahmezustand als Alltag
Wie soll ein Trainer seine Mannschaft auf Fußballspiele vorbereiten, wenn der Ausnahmezustand zum Alltag wird? «Dadurch, dass hier oft viele Sachen passieren, ist das vielleicht nicht so, wie wir das in Deutschland wahrnehmen würden», sagt Doll. «Dass es mal wackelt, ist hier an der Tagesordnung. Das Leben geht immer wieder weiter. Das ist nach Flugzeugabstürzen so, das ist auch nach solchen Tragödien so.» Immer weiter durch eine Saison, in der Doll mit seiner Elf überzeugt, die abseits des Sports aber seine bislang extremste Erfahrung ist – obwohl er auch in anderen Ländern viel gesehen und erlebt hat.
Als Spieler stand der gebürtige Mecklenburger in Italien unter Vertrag (Lazio Rom, AS Bari), als Trainer in der Türkei (Gençlerbirliği Ankara), Saudi-Arabien (Al-Hilal), Ungarn (Ferencváros Budapest) und Zypern (Apoel Nikosia). Und bei Hannover 96, dem Hamburger SV oder Borussia Dortmund war auch oft Feuer drin, Dolls Wutrede beim BVB («Da lach‘ ich mir den Arsch ab») zeugt davon.
Jetzt also Indonesien – und das ist dann doch nochmal eine ganz andere (Fußball-)Welt. «Der Platz stand unter Wasser, wir mussten eineinhalb Stunden warten», erzählt Doll beispielsweise über die Partie gegen PSS Sleman einen Tag vor Weihnachten. Es hatte monsunartig geregnet, zur Pause brach der Schiedsrichter das Spiel ab. «Sowas habe ich noch nie erlebt», sagt Doll, «es ging nichts mehr, der Ball lief nicht, keine Chance.»
Weihnachten und Silvester daheim
Immerhin schaffte es der Trainer per Chartermaschine rechtzeitig zurück nach Jakarta, kurz ins Appartement und anschließend pünktlich zum Flughafen, um von dort über Doha zu seiner Familie nach Budapest zu fliegen. «Ich bin glücklich, dass das noch geklappt hat – manchmal werden Spiele auch kurzfristig nochmal angesetzt.» Diesmal nicht. Weihnachten und Silvester konnte Doll zu Hause mit seiner Frau und der einjährigen Tochter verbringen.
Seit 2. Januar ist der Trainer wieder in Jakarta. Den Gedanken, Indonesien den Rücken zu kehren, hat Doll längst verscheucht – trotz des dunklen Schattens, der über der Saison liegt. «Sehr schlimm» sei es für ihn gewesen, berichtet Doll über den 1. Oktober, als im Kanjuruhan-Stadion in der Provinz Ost-Java nach dem Spiel zwischen Arema Malang und Persebaya Surabaya eine Massenpanik ausbrach. Fans hatten das Feld gestürmt, die Polizei ging gewaltsam und mit massivem Tränengaseinsatz gegen sie vor. Tausende versuchten, die Notausgänge zu erreichen, 135 überlebten nicht. «Und an dem Tag hätten wir noch Fußball spielen sollen – Gott sei Dank wurde das abgesagt», erinnert sich Doll. «Die Spieler hat das auch ziemlich mitgenommen.»
Immer weiter? Zunächst nicht. Neun Tage gab Doll seiner Mannschaft, zu der auch der Ex-Rostocker Hanno Behrens zählt, nach dem Unglück frei. Runterkommen, abschalten, Gedanken sortieren. Es folgte die Zeit der Freundschaftsspiele, weil die Liga nach der Stadion-Katastrophe eine zweimonatige Zwangspause einlegte. Erst Anfang Dezember ging der Betrieb weiter, «von einem Moment auf den anderen», berichtet Doll – und mit einem harten Programm, um die ausgefallenen Spiele nachzuholen.
«Sechs Spiele ohne Fans»
Bis Weihnachten musste Dolls Team sechsmal ran – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch das eine Folge des Unglücks. «Wir haben über zwei Monate kein Spiel gehabt, und dann spielst du auf einmal alle drei, vier Tage – das war wirklich nicht einfach.» Auch nicht für den Kopf. «Die sechs Spiele ohne Fans, die waren wie Freundschaftsspiele, das macht keinen Spaß», sagt Doll. Zumal die Liga, um Zeit und Wege zu sparen, alle Mannschaften in einem Hotel beherbergte. Ringsum fanden auf neutralen Plätzen die Partien statt. Ausnahmezustand eben.
Noch bis 2025 läuft Dolls Vertrag in Jakarta, der Trainer will ihn erfüllen. Er fühlt sich wohl, schwärmt von seinem Club und den Fans. «Persija Jakarta, das ist nicht irgendein Club, das ist ein Traditionsverein mit rund zehn Millionen Fans. Das ist unglaublich.» Auch nach dem Spiel werde noch lange gesungen, «das sind Gänsehautmomente». Und wenn das Derby gegen Persib Bandung ansteht, «ist das wie Werder Bremen gegen HSV».
Die Aussichten scheinen gut, Persija plant neue Trainingsplätze und den Umzug ins 82 000 Zuschauer fassende International Stadium. «Wir wollen hier gerne was aufbauen», sagt Doll. «Indonesien ist jetzt nicht die Bundesliga oder Spanien, aber es ist sehr interessant.» Und alles andere als alltäglich.