Julian Nagelsmann genügten nach seinem ersten kleinen Meisterwerk als Bundestrainer drei Worte, um in der schönsten Länderspielwoche seit Jahren das plötzlich völlig losgelöste Fußballgefühl im EM-Gastgeberland auszudrücken. «Das tut gut!»
Der selbstbewusste und eloquente Chef ließ sich aber im Adrenalin-Rausch des späten Jokertor-Glücks beim verdienten 2:1 (1:1) gegen Erzrivale Holland nicht hinreißen, irgendwelche vollmundigen EM-Versprechen hinauszuposaunen. «Wir verfallen jetzt nicht in eine Hysterie und sehen alles positiv», sagte der 36-Jährige am Dienstagabend im Keller der Frankfurter EM-Arena. Dort will das Team um Anführer Toni Kroos am 23. Juni gegen die Schweiz die Gruppenphase erfolgreich abschließen. Es soll dann aber nur ein erstes Etappenziel sein. Wohin? Achtelfinale? Viertelfinale? Halbfinale? Endspiel? EM-Titel?
«Die zehn Tage haben sehr viel Spaß gemacht von A bis Z»
Träumen von einem Sommermärchen reloaded ist nach drei Turnierflops wieder möglich – und die Vorfreude auf einen erfolgreichen Fußball-Sommer ist geweckt. «Die positive Stimmung wollen wir mitnehmen ins Turnier», sagte Siegtorschütze Niclas Füllkrug.
Nagelsmann verabschiedete die von ihm mit mutigen und konsequenten Maßnahmen wachgeküsste Mannschaft kurz vor Mitternacht bei einer Kabinenansprache in den Vereinsalltag. «Die zehn Tage haben sehr viel Spaß gemacht von A bis Z», sagte er den Spielern. Noch wertvoller war für diese seine Aussage, dass der EM-Kader, den er am 26. Mai im Weimarer Land in Thüringen versammeln wird, nahezu identisch aussehen werde.
Türe fast zu für Goretzka, Hummels, Süle – Sonderfall Sané
«Außer Frage steht: Falls alle gesund bleiben und so weiter performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen im Sommer. Eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei – plus Verletzte», sagte Nagelsmann. Senkrechtstarter wie Maximilian Mittelstädt oder Robert Andrich dürfen sich auf ihre Turnier-Premiere freuen. Altgedienten WM- und EM-Fahrern wie Bayerns Leon Goretzka oder den Dortmundern Mats Hummels und Niklas Süle knallte Nagelsmann dagegen die EM-Türe zu. Ihre Deutschlandtour im Sommer fällt aus.
Alleine dem noch ein weiteres Testspiel gesperrten Münchner Leroy Sané reserviert der Bundestrainer einen der 23 EM-Plätze. «Er muss sich eingliedern in diese funktionierende Gruppe. Ich bin überzeugt, dass Leroy seine Qualitäten zu hundert Prozent in den Dienst der Mannschaft stellt. Und auf die werden wir auf keinen Fall verzichten, wenn er gesund ist.»
Die Wunschelf steht, Turnier-Mannschaften finden sich
Natürlich weiß Nagelsmann, dass im Saisonspurt gerade Verletzungen Masterpläne noch durchkreuzen können. Und auch wenn die EM-Wunschelf nach dem bahnbrechenden 2:0 gegen Frankreich und dem mit großer Willensstärke erzwungenen Heimsieg in Pink gegen Oranje zu stehen scheint: Ein erfolgreiches DFB-Team hat sich im Turnierverlauf noch stets verändert.
Aber die zwei Testspiel-Siege binnen vier Tagen gegen zwei große EM-Kaliber lieferten mehr als nur Indizien, dass in der Nationalmannschaft immer Potenziale steckten, die nur mit entschlossenen Maßnahmen freigelegt werden mussten. Nagelsmann pokerte hoch und war unter vielen deutschen Siegern der große Gewinner der Woche. Er verteilte klare Rollen an Stammkräfte und Herausforderer. Er glaubte an Newcomer wie Stuttgarts Mittelstädt.
Kroos-Comeback als Coup schlechthin
Und es gelang ihm, Nationalspieler a.D. Toni Kroos mit der Heim-EM zu locken. Das Comeback des Jahres ist der Coup schlechthin. «Es geht mir darum, etwas reinzugeben, was vielleicht gefehlt hat», sagte der 34-Jährige von Real Madrid. Kroos ist der Kopf und die menschliche Fußball-Intelligenz, die dieser Mannschaft fehlte. Das Niederlande-Spiel gab noch einen weiteren Schub, weil diesmal Widerstände wie der frühe Rückstand zu überwinden waren. Das gelang mit Mittelstädts Traumtor und Füllkrugs Schulter-Treffer.
«Es wird auch Situationen geben, wo man im Turnier mal zurückliegt. Wir haben eine gute Reaktion gezeigt», sagte Kroos. «Konstanz ist das Schwierigste auf hohem Niveau. Das trennt die Guten von den richtig Guten. Beim Turnier brauchen wir eine große Konstanz, wenn wir lange dabei sein wollen.» Nach dem 0:1 sei man «nicht vogelwild» geworden, lobte Kroos: «Ich weiß nicht, ob das Spiel vor ein paar Monaten noch gewonnen worden wäre.»
Diese Wandlung hob auch Nagelsmann hervor, als er an die November-Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) erinnerte. «Das war kein schönes Bild nach Österreich», erinnerte er an die Stimmung in der DFB-Kabine in Wien. «Da sind ja einige dabei, die seit sechs Jahren nur auf die Mütze kriegen. Und alle dachten, geht die Scheiße schon wieder los.»
«Am Ende steht und fällt alles mit den Ergebnissen»
Nein, Nagelsmann hat den Umkehrschub gezündet. Notorische Verlierer sind im Kroos-Sog wieder Siegertypen. «Am Ende steht und fällt alles mit den Ergebnissen», sagte der durch die Versetzung nach hinten rechts nicht geschwächte, sondern gestärkte Joshua Kimmich. «Die Menschen in Deutschland sind bereit, Begeisterung zu entfachen, wenn wir guten Fußball spielen. Wir müssen den ersten Step machen, dann sind die Menschen da.» Etwas mehr als zehn Millionen schauten bei RTL zu, das Frankfurter Stadion war ausverkauft.
Spaß statt Tristesse – orchestriert von Kroos, ausgelebt von jungen Zauberern wie Jamal Musiala und Florian Wirtz. «Der Esprit ist sehr gut in der Mannschaft. Wir haben eine sehr klare Rollenverteilung bekommen», sagte Füllkrug. Den Sieg gegen die Holländer durften sich gerade auch die Einwechselspieler um Füllkrug und Thomas Müller anheften.
Neuer DFB-Vertrag? Nagelsmann: «Entspannt bleiben»
«Spiele werden bei Turnieren meistens in den letzten 30 Minuten entschieden», sagte Nagelsmann zur Bedeutung der Joker und befand: «Jeder hatte jetzt zehn Tage Zeit, mir zu sagen, ich komme mit der Rolle nicht klar.» Er selbst hat keine 80 Tage vor dem EM-Start in die Bundestrainer-Rolle gefunden. «Entspannt bleiben», sagte er zu seiner persönlichen Zukunft. Der DFB möchte unbedingt noch vor dem Turnierbeginn mit ihm verlängern.
Nagelsmann verlässt vorerst das Scheinwerferlicht. «Leider haben wir jetzt erstmal keinen Zugriff auf die Spieler», sagte er. «Ich hoffe, dass die Jungs den Drive weitertragen in ihren Clubs, das ist das A und O.» Und er hielt fest: «Gewinnen ist doch schöner als verlieren.»